STUTTGART. Schon mit dem Anpfiff herrschte eine komische und befremdliche Atmosphäre in der Stuttgarter MHP-Arena. Weil die Fans in der Cannstatter Kurve die nächste Stufe in ihrem Protest gegen die Führungsriege des VfB zündeten. Nach ihrem erst kürzlich geforderten Rücktritt des kompletten Präsidiums hat sich die Stuttgarter Fankurve nun dazu entschlossen, ihren Unmut gegenüber den jüngsten Machenschaften im Aufsichtsrat durch einen zehnminütigen Stimmungsboykott im schwarz gehüllten Gewand zu äußern.
Eine merkwürdige Stimmung machte sich dann auch nach dem Schlusspfiff wieder breit. Insbesondere bei den Hauptdarstellern auf dem Rasen um VfB-Kapitän Waldemar Anton, die nach Deniz Undavs Treffer in letzter Sekunde und dem 3:3 (1:0)-Unentschieden gegen den Aufsteiger 1. FC Heidenheim nicht so recht wussten, wohin mit ihren Gefühlen. War das jetzt ein gewonnener Punkt oder zwei verlorene Zähler?
Vereinsrekord eingestellt
Das Stuttgarter Stürmerduo Serhou Guirassy und Deniz Undav hat am Ostersonntag einen fast 40 Jahre alten Vereinsrekord des VfB gebrochen. Da beide Angreifer gegen Heidenheim den Ball im Netz zappeln ließen, kommen Guirassy (23 Tore) und Undav (15) nun gemeinsam auf 38 Bundesliga-Treffer und übertreffen damit die bisherige Rekordausbeute von Karl Allgöwer (21) sowie Jürgen Klinsmann (16) aus der Spielzeit 1985/86. An der Bundesliga-Spitze aller Top-Stürmerduos thronen weiterhin Grafite (28) und Edin Dzeko (26), die in der Meistersaison des VfL Wolfsburg 2008/09 zusammen 54 Tore erzielt hatten. (ott)
»Ein hochverdienter Punkt«, zeichnete sich Sportdirektor Fabian Wohlgemuth mal wieder als Meister der Diplomatie aus. Natürlich wusste auch der 44-Jährige, dass die Jungs von Erfolgscoach Sebastian Hoeneß wenige Minuten zuvor einen sicher geglaubten Sieg völlig ohne Not aus der Hand gegeben hatten.
Schließlich präsentierten sich die Hausherren bis zur 62. Minute nicht nur klar tonangebend und hatten eine vermeintlich entscheidende 2:0-Führung im Rücken. Nein, da war auch wieder diese Art und Weise des Fußballspielens, mit denen der VfB in dieser Saison nicht nur einen deutschen Haushalt neu für sich erschlossen haben dürfte. Fußballspielen? Fußball zelebrieren!
Beeindruckend von Stiller, noch sehenswerter von Undav
Wie beim Führungstor von Serhou Guirassy (siehe Box) in der 41. Minute. Einzig und allein diese zehnsekündige Sequenz vor dem Treffer des 28-Jährigen würde ausreichen, um anschaulich zu beschreiben, warum selbst der neutrale Fußball-Fan den Hausfrieden riskiert, wenn dieser mal wieder alles stehen und liegen lässt und bei einer Partie des VfB Stuttgart gebannt auf dem Sofa vor der Glotze hängt.
Beeindruckend wie der zentrale Mittelfeldspieler Angelo Stiller die Situation gelesen hatte und nach seinem einleitenden Pass auf Guirassy zum Lauf in die Tiefe ansetzte und am Ende tatsächlich wieder den Stuttgarter Top-Torjäger mit einem Querpass kurz vor der Torlinie fand. Noch sehenswerter wie Deniz Undav - rückwärts mit der Sohle - den Vorlagengeber überhaupt erst in Szene gesetzt hatte.
Dann kommt die 62. Minute...
Auch der Treffer zum 2:0 von Stiller fiel in die Kategorie Spitzenklasse. Durch One-Touch-Fußball über mehrere Stationen war die Kugel zu Angreifer Undav, der hinter Guirassy als Zehner agiert hatte, gekommen, der den zentralen Mittelfeldspieler mit einem perfekt getimten Ball in die Tiefe bedient hatte. Doch gleichzeitig rückte eben jene 62. Minute immer näher. Dann war sie da.
»Ich fang den Ball wie in 99 Prozent aller Fälle ab«, sagte VfB-Keeper Alexander Nübel über den Kopfball von Heidenheim-Stürmer Tim Kleindienst nach einem Eckball vom bundesweit gefürchteten Standard-Schützen Jan-Niklas Beste. »Dann rutscht er mir irgendwie nach unten durch«, erzählte der 27-Jährige weiter. »Und geht direkt rein.« Bedeutet übersetzt: Ein selbst ins Netz gelegte Osterei und das bittere Eigentor zum 1:2.
Hoeneß will Nübel keinen Vorwurf machen
»Das wird ihm in den nächsten Jahren nicht mehr passieren. Alex hat bis hierhin eine überragende Saison gespielt. Da gibt es keinen Vorwurf von mir«, meinte VfB-Coach Hoeneß klipp und klar. Und trotzdem müsse diese Situation beim Spielverlauf genannt werden. »Weil dann etwas in den Köpfen passiert. Insbesondere, wenn das Spiel entschieden wirkt«, führte der 41-Jährige weiter aus.
Doch dass der Aufsteiger von der Ostalb fünf Minuten vor Schluss nach einem Doppelpack von Tim Kleindienst binnen 120 Sekunden plötzlich mit 3:2 in Führung lag, dürften auch Hoeneß und Nübel nicht im schlimmsten Traum befürchtet haben. Die Mannschaft von FCH-Trainer Frank Schmidt machte exakt das, was sie in der bisherigen Saison schon so oft gezeigt hat: Nie aufstecken und vorne die Buden machen, wenn sich die Chancen bieten. Dreimal schossen die Heidenheimer auf das Tor. Die Ausbeute? Dürfte bekannt sein.
Undav zeigt sich geschockt vom Auftritt ab der 60. Minute
»Ich möchte nochmal ganz klar zum Ausdruck bringen, wie überragend es ist, dass wir in diesem Spiel noch das 3:3 erzielt haben«, sagte Hoeneß mit Nachdruck über den Treffer von Undav mit der letzten Aktion des Spiels. Also nun doch ein gewonnener Punkt? Nicht für den Last-Second-Torschützen und frischgebackenen Neu-Nationalspieler: »Ab der 60. Minute war es arrogant, wie wir gespielt haben. Ich war selbst geschockt, wie wir performt haben. Wenn du oben mitspielen willst, darfst du so nicht auftreten.«
Also was jetzt? Tatsächlich liefert der Blick auf das Gesamt-Tableu in der Bundesliga eine Antwort. RB Leipzig, das den ersten Nicht-Champions-League-Platz belegt, ließ beim 0:0 zu Hause gegen die abstiegsgefährdeten Mainzer überraschend Federn. Somit bleibt alles beim Alten. Obwohl es eigentlich wenige Sekunden vor dem Schlusspfiff so ausgesehen hatte, als würde der Vorsprung des VfB auf den Dosenclub aus Sachsen auf sechs Zähler schrumpfen. Allein schon deshalb sollte man von einem gewonnen Punkt sprechen. (GEA)