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Zwischen »Quatsch« und Verständnis: Videobeweis spaltet

Handspiel oder nicht? Abseits? Höchstens mit dem Rand des Zehnagels. Torjubel? Erst mal verschoben. Der Videobeweis wird auch bis zur EM im Sommer ein Learning-by-doing-Projekt mit vielen Tücken bleiben.

Videobeweis
Der Videobeweis spaltet die Fußball-Welt weiter. Foto: Rolf Vennenbernd/dpa
Der Videobeweis spaltet die Fußball-Welt weiter. Foto: Rolf Vennenbernd/dpa

Frankfurt/Main (dpa) - Nicht im Kölner Keller, sondern in Lagos an der Algarveküste absolvieren die deutschen Spitzenschiedsrichter dieser Tage ihr Trainingslager.

Nach einer Bundesliga-Hinrunde mit vielen Scherereien um den verflixten Videobeweis müssen sich die Referees für eine heiße Rückrunde wappnen. Deshalb haben sie auch drei Arbeitsstationen für Simulationstraining dabei. So unklar derzeit ist, wer deutscher Fußball-Meister wird, so eindeutig scheint: Die Debatten um Handspiele und strittige Abseitspositionen werden weitergehen. Auch auf internationaler Ebene.

Vor allem bei den Spielern ist die Unzufriedenheit groß. In einer »Kicker«-Umfrage unter den Bundesliga-Profis verneinten 63,2 Prozent die Frage, ob der Videobeweis nun besser klappe. Auch die neue Handspielregel ist für 61,5 Prozent der Befragten nicht besser nachvollziehbar.

So manche Protagonisten würden das Rad gerne zurückdrehen. »Ich sehne mich nach der alten Zeit zurück, als angelegter Arm noch angelegter Arm war«, sagte Bayer Leverkusens Geschäftsführer Rudi Völler nach einer der vielen diskutierten Szenen in der Hinrunde. »Nach der Zeit vor dem Videobeweis sehne ich mich auch zurück. Es ist wie mit vielen Dingen: Wenn man sie erst einmal hat, kriegt man sie nicht mehr los.«

»Es ist keine leichte Situation - weder für uns noch für die Schiedsrichter«, sagte Bayerns Nationalkeeper Manuel Neuer dem »Kicker«, erklärte aber auch: »Grundsätzlich finde ich den Video-Assistenten gut, ja. Er ist schon eine gewisse Hilfe für die Schiedsrichter, den Wettbewerb nicht zu verzerren.«

Eine Rückkehr zur alten Handspiel-Regel fordert der frühere Spitzenschiedsrichter Urs Meier. »Die Weichen wurden in die falsche Richtung gestellt. Es wurde verkompliziert. Das ist Quatsch, nicht Fußball«, sagte der Schweizer der Deutschen Presse-Agentur.

Die Regelhüter des International Football Association Board (IFAB) sieht der 60-Jährige nun in der Pflicht, bei ihrer nächsten Sitzung am 29. Februar in Belfast wieder für Klarheit zu sorgen. Vor allem die »unnatürliche Vergrößerung« des Körpers aufgrund der Hand- oder Armhaltung führt immer wieder zu umstrittenen, manchmal spielentscheidenden Situationen.

Christian Seifert, Geschäftsführer der Deutschen Fußball Liga (DFL), sieht die jetzige Interpretation des Handspiels gar als »absolutes Ärgernis. Keiner weiß noch, was Hand ist und was nicht.«

Nach Meiers Meinung sollte Handspiel nur geahndet werden, wenn die Hand zum Ball geht und eine Absicht erkennbar ist. Durch die Ansicht der Zeitlupen würde durch den Video-Assistenten viel zu oft auf Handspiel entschieden, dabei müsse der Schiedsrichter »wieder im Mittelpunkt« der Entscheidungsfindung stehen.

Auch die derzeitigen Abläufe bei Abseitsentscheidungen bewertet der ehemalige FIFA-Unparteiische kritisch. Trotz klarer Abseitspositionen würden die Linienrichter ihre Fahne nicht heben, weil man erst schaue, ob es ein Tor gebe. Anschließend dauere es viel zu lange, bis eine Entscheidung gefällt werde. »Der Video-Assistent sorgt für viel zu viele Diskussionen«, meinte Meier.

Zuletzt hatte der Videobeweis sogar das DFB-Sportgericht beschäftigt, das den Einspruch des SV Wehen Wiesbaden gegen die Wertung der 0:1-Niederlage bei Dynamo Dresden ablehnte. Es war um ein nicht anerkanntes Tor des Zweitliga-Aufsteigers gegangen. Der Vorsitzende Richter Hans E. Lorenz sah aber keinen Regelverstoß des Referees oder des Videoassistenten (VAR) und mahnte, dass sich alle Beteiligten im Fußball mit dem technischen Hilfsmittel anfreunden müssten: »Wir sind alle noch ein bisschen gefangen in unserem tradierten, überholten Regelverständnis. Wir müssen uns davon lösen.« Und: »Der Video-Assistent soll das Fußballspiel gerechter machen, nicht das System destabilisieren.«

Jochen Drees, Projektleiter Videobeweis beim DFB, bemüht sich um Gelassenheit. »Das ist ein immer weiter gehender Prozess, die FIFA hat auch Arbeitsgruppen, die sich damit beschäftigen. Also werden wir in den nächsten Jahren auch noch Änderungen erleben«, meinte der frühere Spitzenschiedsrichter.

Für großes Unverständnis sorgen neben den Handspiel-Entscheidungen und den Wartezeiten auf dem Platz, wenn der Schiedsrichter das Spiel unterbricht und einen Bildschirm in die Luft malt, vor allem die Abseitsentscheidungen. Dabei soll die kalibrierte Linie im Studio des VAR in Köln helfen.

Mario Gomez sieht sich inzwischen als personalisierter Leidtragender dieses Hilfsmittels. Fünf Treffer in drei Spielen wurden dem Ex-Nationalstürmer des VfB Stuttgart zuletzt wegen knapper Abseitsstellungen aberkannt. Gomez wetterte über den »bescheuerten Videobeweis«. Dabei stellte Drees klar, dass bei vier der fünf nicht anerkannten Tore der Linienrichter die Situation als Abseits bewertet hatte und nicht vom Video-Assistenten in Köln korrigiert wurde.

»Aus meiner Sicht hat sich der Videobeweis deutlich positiv entwickelt. Die Schwerpunkte, über die wir reden, sind meines Erachtens hauptsächlich immer mal wieder das Thema Abseits«, sagte der frühere Bundesliga-Referee Knut Kircher der Deutschen Presse-Agentur.

Bei knappen Abseitsentscheidungen planen die Regelhüter des IFAB jedenfalls keine weitreichenden Änderungen. »Wenn die Bilder mit kalibrierten Linien und dem Lot zeigen, dass eine Abseitsstellung vorliegt, dann soll sich der Video-Assistent weiterhin melden«, sagte IFAB-Geschäftsführer Lukas Brud bei »sportschau.de«. »Auch wenn es nur um einen Zentimeter geht. Abseits ist Abseits.«

Zuvor waren Aussagen von Brud in englischen Medien so interpretiert worden, dass minimale Abseitsstellungen nicht mehr geahndet werden sollen. Eine derartige Direktive solle am 29. Februar in Nordirland beim jährlichen IFAB-Treffen gegeben werden. Eine Toleranzgrenze komme nicht in Frage, betonte Brud nun. Er habe lediglich an das Prinzip erinnern wollen, dass der Video-Assistent nur bei klaren, offensichtlichen Fehlern eingreifen solle.

»Ich glaube, dass durch den Videobeweis suggeriert wurde, jetzt wird alles, einfach alles aufgelöst. Jetzt werden alle Entscheidungen in Schwarz und Weiß geteilt. Aber das ist nicht so, das ist eine falsche Erwartungshaltung«, meinte Kircher. Die Erwartungshaltung sei so, dass offensichtliche Fehler behoben werden – »aber ist der Zuschauer, der das erwartet, immer so neutral?«

Ein Zurück gibt es auch nicht für den 50-Jährigen, der noch als Schiedsrichter-Beobachter unterwegs ist. »So Dinge wie Phantomtore, die könnten wir dann wieder haben, aber dahin wollen wir nicht zurück«, sagte er. »Wo wir deutlich besser geworden sind, sind diese Eintrittsgrenzen zu verschärfen – also wann schreiten wir ein?«

Die Wartezeit bis zur Entscheidung in Köln, so kritisieren Fans und Profis weiter, nehme dem Fußball die spontanen Emotionen. Den bangen Blick zum Unparteiischen, ob er den Finger ans Ohr legt, um via Headset den VAR besser zu verstehen, haben mittlerweile die meisten Torschützen. Manchmal hilft ein bisschen Hohn und Humor, um die hitzige Debatte um die technischen Hilfsmittel gelassener zu ertragen. So wie es in einem Lied des Sportsatire-Youtube-Kanals Woom im »Videobeweis Song« heißt: »Der lässt dem Spiel die ganze Luft raus, schönen Daaank. Du wartest 1,2,3,4,5 Minuten laaang.«