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Aktuell Fußball

Veranstaltungsreihe in Stuttgart: Kicken im Kessel

Alles über den Fußball in Stuttgart: Mit einer Veranstaltungsreihe stimmen das Stadtpalais und die Sportregion Stuttgart auf die EM ein.

Autor Bernd Sautter (links) und Michael Bofinger von der Sportregion sprechen über Fußball in Stuttgart. Im Hintergrund der jung
Autor Bernd Sautter (links) und Michael Bofinger von der Sportregion sprechen über Fußball in Stuttgart. Im Hintergrund der junge Jogi Löw im VfB-Trikot. Foto: Frank Schwaibold
Autor Bernd Sautter (links) und Michael Bofinger von der Sportregion sprechen über Fußball in Stuttgart. Im Hintergrund der junge Jogi Löw im VfB-Trikot.
Foto: Frank Schwaibold

STUTTGART. Der Mann ist ein lebendes Lexikon: Bernd Sautter weiß alles über Fußball – zumindest in Baden-Württemberg und ganz besonders in Stuttgart. Auch an diesem Abend gibt der Autor zahlreiche Anekdoten und erstaunliche Kenntnisse preis. Eingeladen haben das Stuttgarter Stadtpalais und die Sportregion Stuttgart, die mit einer elfteiligen Veranstaltungsreihe über das »Kicken im Kessel« informieren wollen. Wer eines der fünf Spiele bei der Europameisterschaft oder die EM-Fanmeile in der Landeshauptstadt besucht, soll schließlich wissen, was es in dieser Stadt mit dem Fußball so auf sich hat.

Sautter spielt deshalb mit Michael Bofinger, dem Geschäftsführer der Sportregion und ehemaligen GEA-Mitarbeiter, den Doppelpass. Und das geht so: Bofinger stellt eine steile These auf und Sautter muss den Nachweis liefern. Prompt geht ein Raunen durch das Publikum, als Bofinger kühn behauptet, der Fußball sei eigentlich in Stuttgart erfunden worden. Kaum zu glauben, denn allenthalben gilt, dass dies in Deutschland der Pädagoge Konrad Koch war. Der Lehrer für Latein, Deutsch und Geschichte an einem Braunschweiger Gymnasium organisierte im Oktober 1874 nach bisherigem Kenntnisstand das erste Fußballspiel in Deutschland. Früh schon hatte Koch erkannt, wie wichtig sportliche Aktivität für eine gesunde Entwicklung der Schüler ist. Also initiierte er ab 1872 Schulspiele zur Ergänzung des Turnunterrichts. 1874 führte er schließlich auch Fußball als weiteres Schulspiel ein.

Cannstatt als Keimzelle des deutschen Ballsports

Doch Sautter verortet die Quelle des deutschen Fußballs nicht in Braunschweig, sondern in Stuttgart. Er verweist auf den Cannstatter Fußballpionier Philipp Heineken und dessen Erinnerungen an den Cannstatter Fußball-Club (CFC). Heineken ist Schriftführer des CFC, der sich 1890 gründete, aber als lose Spielgemeinschaft schon 20 Jahre zuvor bestand. »Dem begeisterten Sportpionier verdanken wir ausführliche Berichte über den Sport im ausgehenden 19. Jahrhundert«, berichtet Sautter. Ihm zufolge ist Cannstatt die Keimzelle des deutschen Ballsports. Heineken bezieht sich dabei auf William Cail, der ihm schriftlich versichert, er hätte bereits 1865 – und damit neun Jahre vor dem Beginn der Braunschweiger Fußballzeit - als 16-Jähriger in der damaligen Kleinstadt am Neckar Ballspiele betrieben. Cannstatt, damals noch nicht nach Stuttgart eingemeindet, war als der Ort mit dem zweitgrößten Mineralwasservorkommen Europas besonders für den englischen Adel attraktiv. Auf eines der neu entstandenen Internate ging William Cail, der später Schatzmeister des englischen Rugbyverbands wurde.

Das frühe Datum von 1865 ist für Sautter gleich aus zwei Gründen bemerkenswert. Erstens sind Association Football (Soccer) und Rugby zu diesem Zeitpunkt noch nicht sauber getrennt. Dies erfolgt erst 1871. Die Regeln waren zuvor eine Mischform aus Fußball und Rugby. Die Frage, ob damals Fußball oder Rugby gespielt wurde, erübrigt sich zu diesem frühen Zeitpunkt also. Beides nannte man einfach »Football«. Fast noch wichtiger ist der zweite Grund: Laut Sautter handelt es sich bei Heinekens schriftlich hinterlegten Erinnerungen »um die früheste Erwähnung von Ballsport in Deutschland«. In einer Fußnote zitiert er Cail mit dem Satz: »My connection with football in Germany were about 1865. I played upon a stretch of grass by the river Neckar at Cannstatt.«

Kickers-Tribüne als Nachbildung der Holztribüne von Arsenal

Der Fußball in Stuttgart ist aber auch anderweitig mit England verbunden. In den frühen Jahren sind die Kickers Serienmeister in Württemberg. 1908 werden sie sogar deutscher Vizemeister. In Tempelhof unterliegen sie im Finale Viktoria 89 Berlin mit 1:3. Die Blauen, wie die Kickers wegen ihren Vereinsfarben genannt werden, bringen mit Otto Löble und Eugen Kipp auch zwei Nationalspieler heraus. Sautter: »Dementsprechend mondän wird der Platz auf der Waldau ausgestattet.« Man stellt ihm eine originalgetreue Nachbildung der Tribüne von Arsenal London im Maßstab 1:3 an die Seite. 700 Zuschauer fanden darauf Platz. Der englische Holzstil gilt als etwas ganz Besonderes. Wegen Pilzbefall muss die historische Tribüne 1975 abgerissen und durch eine neue Haupttribüne ersetzt werden. Der Deutsche Fußball-Bund droht den Kickers an, dass sie ansonsten die Lizenz für den Profifußball entzogen bekommen.

»Statt in den Krieg wurden die A-Jugendlichen in den Krieg geschickt. - Bernd Sautter, Fußball-Autor und Blogger«

Doch der Verein, der in Deutschland am längsten in der Bundesliga in ein und demselben Stadion spielt, ist der große Lokalrivale VfB. Zum Turnfest 1933 wird die Anlage im Neckartal unter dem Namen Adolf-Hitler-Kampfbahn eröffnet. Nach dem Krieg heißt es dann Neckarstadion. Das große, freitragende Dach hatte damals Paul Bonatz konzipiert, der auch den historischen Bahnhof am Ende der Königstraße gebaut hat. Seit es Profifußball gibt, ist das Neckarstadion die Heimstätte des VfB. Stuttgart hat somit das älteste Stadion, in dem dauerhaft in der Bundesliga gespielt wird.

Mit am schlimmsten sind die Folgen des Zweiten Weltkriegs für einen anderen Stuttgarter Verein. Der FV Zuffenhausen, damals die dritte Macht in Stuttgart, spielt mit den Aktiven in der Gauliga Württemberg. Die Perspektiven sind Anfang der 1940er-Jahre großartig. Ein enorm starker Jahrgang der A-Jugend drängte in die erste Mannschaft. Zwei der besten Spieler sind Ernst Köppel, der Vater des späteren Nationalspielers Horst Köppel, und Robert Schlienz. »Bei Schlienz zweifelte schon damals keiner, dass er mal ein ganz Großer wird«, sagt Sautter.

Fußball-Autor Bernd Sautter
Fußball-Autor Bernd Sautter Foto: Frank Schwaibold
Fußball-Autor Bernd Sautter
Foto: Frank Schwaibold

Am Ende der Saison 1942 war der FVZ-Nachwuchs württembergischer Meister mit einem unglaublichen Torverhältnis von 371:45. Der VfB und die Kickers wurden mit 6:1 beziehungsweise 7:0 vom Platz gefegt. Sautter: »Aber statt in die erste Mannschaft wurden die Jungs in den Krieg geschickt!« Die Tragödie nahm ihren Lauf. Fünf Spieler kamen ums Leben. Schlienz überlebte, obwohl ihm eine russische Kugel den Kiefer zertrümmerte. Nach dem Krieg wechselte er zum VfB und wurde dort Kapitän. Er gewann die deutsche Meisterschaft und wurde Nationalspieler, obwohl er 1948 bei einem Autounfall einen Arm verlor.

Nun aber steht die Europameisterschaft vor der Tür, und da wird in Stuttgart ein weiteres Kapitel Fußball-Geschichte geschrieben. Sieben Nationalmannschaften und ihre Fans geben ihre Visitenkarte in der Landeshauptstadt ab. Der Museumsdirektor des Stadtpalais, Dr. Torben Giese, freut sich vor allem auf eines. »Der Fußball ist ein verbindendes Element für die Stadtgesellschaft.« Bernd Sautter, nach eigenen Angaben geboren, als 1966 das Wembley-Tor fiel, hat dieser These nicht widersprochen. Und Michael Bofinger, der Spiritus Rector von »Kicken im Kessel«, wird bis zur EM von der Schwäbischen Jugo-Liga bis zur Hauptstadt des Blindenfußballs noch weitere Stuttgarter Besonderheiten ans Tageslicht fördern. (GEA)

DJ Dirty Daniela legt Musik auf im Stadtpalais
DJ Dirty Daniela legt Musik auf im Stadtpalais Foto: Frank Schwaibold
DJ Dirty Daniela legt Musik auf im Stadtpalais
Foto: Frank Schwaibold
Das Publikum wird einbezogen: Michael Bofinger von der Sportregion zeigt, wie  man seiner These zustimmt.
Das Publikum wird einbezogen: Michael Bofinger von der Sportregion zeigt, wie man seiner These zustimmt. Foto: Frank Schwaibold
Das Publikum wird einbezogen: Michael Bofinger von der Sportregion zeigt, wie man seiner These zustimmt.
Foto: Frank Schwaibold
Ex-VfB-Präsident Mayer-Vorfelder springt über die Hallenbande.
Ex-VfB-Präsident Mayer-Vorfelder springt über die Hallenbande. Foto: Frank Schwaibold
Ex-VfB-Präsident Mayer-Vorfelder springt über die Hallenbande.
Foto: Frank Schwaibold

Kicken im Kessel

Bereits stattgefunden: »Panini – Faszination Sammelbilder« und »Alles über Fußball in Stuttgart«
Weitere Themen und Termine der Veranstaltungsreihe sind:

22. Mai: Die Schwäbische Jugo-Liga
29. Mai: Hidden Champions
5. Juni: Kathedralen der Leidenschaft
12. Juni: Beat the Pro NikLugi
22. Juni: Tipp-Kick-Tag
25. Juni: Stadtrivalen
3. Juli: Hauptstadt des Blindenfußballs
12. Juli: Sportjournalismus
13. Juli: Stadion der Zukunft
Der Eintritt im Stadtpalais (Konrad-Adenauer-Str.2 in Stuttgart) ist frei.
Mehr Infos: www.stadtpalais-stuttgart.de
Buchtipp: Fußballheimat Württemberg von Bernd Sautter (Arete Verlag 2019, ISBN 978-3-96423-013-3)