ISTANBUL. Lewis Hamilton kamen schon im Cockpit die Tränen. »Für alle Kinder da draußen, die vom Unmöglichen träumen - ihr könnt es schaffen!«, sagte der alte und neue Formel-1-Weltmeister am Boxenfunk.
Mit seinem siebten WM-Titel hat der Brite die bedeutendste Bestmarke von Michael Schumacher eingestellt.
Als erster kniete sich der Überraschungsdritte Sebastian Vettel neben den schwarz lackierten Silberpfeil und gratulierte dem in sich versunkenen Hamilton. Er brauchte ein paar Minuten, ehe die Freude über die famose Fahrt zum Titelrekord von Schumacher aus ihm heraussprudelte. Er nahm den Helm vom Kopf, stieg aus seinem Wagen und rannte in die Arme seiner überglücklichen Mercedes-Crew.
Im Rutsch- und Regenchaos von Istanbul schaffte Hamilton am Sonntag seinen zehnten Saisonsieg und raste unter schwersten Bedingungen zum nächsten Meilenstein seiner Karriere. Der 35-Jährige verdrängte den Mexikaner Sergio Perez im Racing Point und Ex-Champion Vettel im Ferrari nach einer Aufholjagd auf die Plätze zwei und drei. »Ich hätte es nicht besser machen können«, funkte Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff an seinen Star-Piloten.
Nach dem viertletzten Saisonrennen ist Hamilton nicht mehr von der Spitze zu verdrängen. Er hat 307 WM-Punkte und liegt uneinholbar vor seinem Stallrivalen Valtteri Bottas. Der Finne hatte als 14. nichts mit dem Kampf um die Spitze zu tun und wurde sogar überrundet. Die Autos von Konstrukteurs-Weltmeister Mercedes kamen auf dem neuen Asphalt lange nicht zurecht. Hamilton war nur von Rang sechs gestartet, zeigte auf der besonders rutschigen und zudem noch regennassen Strecke aber einmal mehr seine ganze Klasse.
Hamilton wurde im Kampf um den vierten Platz lange von Sebastian Vettel im Ferrari aufgehalten, übernahm in der 38. Runde aber erstmals die Führung und konnte diese verteidigen. Vettel konnte nach einem starken Start ebenfalls überzeugen und belohnte sich mit dem ersten Podestplatz dieser Saison. Erst zwei Kurven vor Rennende nutzte er einen Fehler von Teamkollege Charles Leclerc und feierte sein mit Abstand bestes Resultat des Jahres.
Sportlich ist Hamilton spätestens jetzt ganz oben angekommen und steht statistisch auf einer Stufe mit dem bislang größten Rennfahrer der Geschichte. Es gibt keinen Zweifel daran, dass er Schumacher noch überholen kann, wenn er seine Karriere wie erwartet fortsetzt. Die Verhandlungen sollen nach dem Titelgewinn Fahrt aufnehmen, sagte Wolff vor dem Wochenende. »Wir wollen ihn im Auto und er will den Mercedes«, betonte der Österreicher. Titel Nummer acht und vielleicht noch mehr sind möglich.
Hamilton geht es aber längst um andere Dinge als nur ein schnelles Auto. Nicht erst seit dem Ausbruch der Corona-Krise geht sein Blick weiter. Er will das Leben der Menschen positiv beeinflussen, bringt sich aktiv im Kampf gegen Rassismus und für mehr Diversität in der Gesellschaft ein, auch der Klima- und Umweltschutz beschäftigt ihn.
»Der Fahrertitel hat nicht unbedingt Auswirkungen auf das Leben der Menschen. Der Versuch, die Bedingungen für Menschen auf der ganzen Welt zu verbessern - gleiche Menschenrechte zu schaffen - ist für mich das Wichtigste«, sagte Hamilton zuletzt. Bemerkenswerte Worte des überzeugten Veganers, der sich in den vergangenen Jahren drastisch gewandelt hat. »Er hat sich sehr entwickelt. Als Fahrer und auch als Mensch außerhalb des Autos«, sagte sein Boss Wolff.
Vorbei sind die Zeiten der öffentlichen Liebeleien mit Pop-Sternchen Nicole Scherzinger, auch seinen Privatjet hat er abgegeben und nutzt seine Social-Media-Kanäle mit alleine mehr als 20,5 Millionen Followern auf Instagram nun lieber vorrangig, um auf Missstände aufmerksam zu machen, eine von ihm entworfene Mode-Kollektion oder selbst komponierte Musik zu präsentieren. Oder einfach für ein paar Videos mit seinem Hund Roscoe.
Sportlich ist Hamilton seit langem der Maßstab. Er hält die Rekorde für die meisten Pole Positionen (97) und auch die meisten Grand-Prix-Siege (94). Er gewann 2008 im McLaren seinen ersten WM-Titel, 2014, 2015, 2017, 2018, 2019 und nun 2020 folgten sechs weitere im Mercedes. Die einzige Niederlage im Silberpfeil kassierte er 2016, als Nico Rosberg Champion wurde und danach seine Laufbahn beendete.
Hamiltons Vater hatte früher vier Jobs gleichzeitig, damit der kleine Lewis dem Motorsport nachgehen konnte. Ausgelacht habe man sie dafür, dass sie ihren Traum von der Formel 1 umsetzen wollten. »Aber wir haben es als Familie geschafft und einfach niemals aufgegeben«, schrieb Hamilton kürzlich bei Instagram. (dpa)