DOHA/REUTLINGEN. Man hat sich im deutschen Schwimmsport fast wie selbstverständlich an Misserfolge gewöhnt, neue Erfolge haben fast noch etwas Unwirkliches. Drei Bronzemedaillen durch Isabel Gose und Lukas Märtens und das unfassbare Gold von Angelina Köhler über 100 Meter Schmetterling. Seit Britta Steffen 2009 kannte man so etwas nicht mehr. 15 Jahre kein Titel, 2008 in Peking das letzte Olympiagold von Britta Steffen, nichts Vergleichbares 2012 in London und 2016 in Rio de Janeiro – und nun Angelina Köhler.
Angelina wer? Nur Insidern der Szene, von denen es immer weniger gibt, hatten die junge Dame auf dem Zettel. Und dann diese emotionalen Bilder aus Doha. Steht der deutsche Schwimmsport vor neuer Blüte? Gibt es Anzeichen für einen neuen Höhenflug? Lasse Frank, der Trainer von Angelina Köhler in Berlin-Neukölln, wirbt bei aller Freude für Realitätssinn: »Im Sprintbereich sind riesige Löcher und Abstände zur Weltspitze, das ist ein Wahnsinn.« Aber seine Trainingsgruppe in Neukölln und das Langstrecken-Zentrum im Magdeburg haben sich trotz schwieriger finanzieller Verhältnisse unter Bundestrainer Bernd Berkhahn auf den Weg gemacht. Letzten Ende mehr oder weniger auf sich gestellt, aber mit hohen olympischen Zielen, die lange aus dem Blick geraten sind. Die Ära von Britta Steffen und Paul Biedermann ist lange Vergangenheit, erst recht die Zeiten von Michael Gross und Franziska van Almsick, als der deutsche Schwimmsport noch international für Furore sorgte.
Zu bedenken auch, dass der Silberstreif von Doha auch aus der Tatsache resultiert, dass viele internationale Spitzenkräfte im Olympiajahr die absurd terminierten Weltmeisterschaften auslassen. Die Titelkämpfe wurden wegen Corona verschoben und kurz nach Fukuoka und kurz vor Paris 2024 vom Weltverband noch in den Kalender gepresst. Unmöglich angesichts der Tatsache, dass die Periodisierung des Trainings längst auf Olympia in der französischen Metropole ausgerichtet ist.
Sie sagt, was sie denkt
»Ich kann das alles noch nicht begreifen, was da passiert ist, aber ich freue mich einfach riesig«, sagt die 23jährige Angelina Köhler in Doha nach ihrem begeisternden Finale. Und erinnert sich dann an ihre nicht einfache Teenager-Zeit. »Ich bin einfach ein bisschen anders als alle anderen. Ich hatte als Teenagerin Probleme damit, dass ich gemobbt wurde. Wenn man ziemlich groß ist, ziemlich dünn, lange Arme hat und etwas größere Zähne, dann noch eine Brille trägt und über die eigenen Füße fällt, ist es ziemlich einfach für ältere Jungs, sich über einen lustig zu machen. Aber es hat mich vor allem gestärkt bei den Sachen, die ich mache«, sagt sie. Was für eine Geschichte.
Nun steht sie im Rampenlicht. Sie war schon immer auffallend, sehr aktiv, gut gelaunt und auskunftsfreudig, eine, die sich nicht verstellt, eine, sagt man, die authentisch ist. Angelina Köhler sagt, was sie denkt. Trainer Lasse Frank sagt: »Wir wissen, zu was sie fähig ist. Wenn sie mal etwas liegenlässt, dann ist die Trainingsgruppe da und schleppt’s ihr hinterher. Sie ist unser Regenbogen. Sie ist die Sonne.« Erst unmittelbar vor ihren Wettkämpfen ist sie in ihrer eigenen Welt. Zu Taylor Swifts »Cruel Summer« flippt sie regelmäßig im Warteraum aus und stimmt sich so auf Höchstleistungen ein. Dass im »Call Room« auch eine Kamera hängt, hält sie nicht davon ab. Aus Sicht ihres Trainers wird Köhlers Leistung auch nicht dadurch geschmälert, dass einige starke Konkurrentinnen wegen der Olympischen Spiele fehlten. »Sie ist in der Weltspitze angekommen«, sagt Frank. Ihr deutscher Rekord von 56,11 Sekunden aus dem Halbfinale war eine Hundertstelsekunde schneller als die Siegerzeit der Chinesin Zhang Yufei der vergangenen Weltmeisterschaften. Mit Angelina freute sich vor dem Bildschirm Britta Steffen, sie hatte das Rennen mit ihrem sechsjährigen Sohn verfolgt. »Und als Angelina dann Weltmeisterin geworden ist über die 100 Meter Schmetterling haben wir uns tierisch gefreut. Ganz große Leistung – tolles Rennen, starkes Rennen«, sagte die Doppel-Olympiasiegerin von Peking im ARD-Hörfunk. (GEA/dpa)