REUTLINGEN. Gruppensieger nach der Vorrunde, dazu noch ohne Niederlage und mit nur zwei Gegentreffer bisher: Es gibt einiges, was sich bei der deutschen Fußball-Nationalmannschaft vor der K.o.-Runde sehen lassen kann. Der GEA analysiert Pluspunkte, aber auch Schwächen des Teams.
- Neuer hat sich gefangen
Viel Kritik hatte es vor der Fußball-Europameisterschaft an Manuel Neuer gegeben. Der einstige Welttorhüter, durch Verletzungen zurückgeworfen, schien mit 38 Jahren in ein ausgewachsenes Form-Tief gestürzt zu sein. Nach Patzern über Wochen hinweg verwunderte es, dass Julian Nagelsmann an seiner Nummer eins festhielt. Doch der Bundestrainer hatte offenbar das richtige Gespür. Seit Turnier-Beginn wartete Neuer mit einigen Glanzparaden auf, bei den Gegentreffern war er machtlos. Eine einzige Unsicherheit im Herauslaufen im Ungarn-Spiel vermochte den positiven Gesamteindruck nicht abzuschwächen. Neuer hat sich wieder gefangen.
- Abwehr solider als erwartet
Vor sieben Monaten hatte Nagelsmann das ausgesprochen, was angesichts teilweise katastrophaler Defensivleistungen in den Testspielen offensichtlich war: »Wir sind keine Verteidigungsmonster und werden auch im Sommer keine Verteidigungsmonster sein.« Und nun steht die Abwehr bislang besser als erwartet. Gegen Schottland nicht gefordert, mussten Antonio Rüdiger & Co. lediglich ein unglückliches Eigentor einstecken. Im Duell mit Ungarn wurde ein Zu-Null erreicht und auch die deutlich stärkeren Schweizer konnten die deutsche Hintermannschaft nur einmal überwinden. Das liegt nicht nur an Neuers Leistungssteigerung seit Turnierbeginn. Nagelsmann hatte das gemacht, was ein Trainer unbedingt machen sollte: Die Taktik an die personellen Gegebenheiten anpassen und nicht umgekehrt der Mannschaft ein vom Coach bevorzugtes System überstülpen. Angriff ist die beste Verteidigung: Das scheint das Motto des Bundestrainers zu sein. Also lässt der Coach offensiv spielen, die Mannschaft agiert mit viel Ballbesitz- und Kurzpass-Fußball - Toni Kroos lässt grüßen. Damit hält man den Gegner vom eigenen Strafraum fern. Funktionierte gegen Schottland und Ungarn, gegen die hoch stehenden Schweizer nur bedingt. Nagelsmann sprach danach von knapp 70 Prozent Ballbesitz seiner Mannschaft. Und dennoch hätte seine Elf fast verloren. Ballbesitz kann auch brotlose Kunst sein, wenn sie nicht in Tore umgemünzt wird.
-Unterschied Musiala-Wirtz
Auch wenn es gegen die Schweiz nicht immer zwingend war und die Fans auf den einzigen deutschen Treffer lange warten mussten: Die Angriffs-Abteilung hat gezeigt, dass sie begeistern kann. Acht Tore in drei Partien können sich allemal sehen lassen. Alle Offensivspieler von Nagelsmanns Stammbesetzung haben sich bereits in die Torschützenliste eingetragen, was bei einer EM-Vorrunde auch nicht die Regel ist. Mit Jamal Musiala verfügt das Team über einen der bisher auffälligsten Spieler des Turniers überhaupt. Der Youngster mit dem gewaltigen Potenzial ist durch seine spektakulären Dribblings, die exzellente Schusstechnik und seine Torgefahr ein ständiger Unruheherd für jede gegnerische Hintermannschaft. Er kann ein Weltklassespieler werden, wenn er weiter an seine Stärken glaubt und an ihnen arbeitet. Dagegen ist der nicht minder hoch veranlagte Florian Wirtz nach perfektem EM-Auftakt deutlich weniger in Erscheinung getreten. Sein Aktionsradius und sein läuferisches Pensum sind zwar beeindruckend, aber unter dem Strich sprang gegen Ungarn und die Schweiz nicht viel dabei heraus. Er sollte weniger in der Breite des Spielfelds unterwegs sein, sondern wäre näher bei der Angriffsspitze effektiver. Im Gegensatz zu Musiala, der einen unbekümmerten Eindruck macht, scheint sich Wirtz angesichts von Druck und hohen Erwartungen schwerer zu tun, die Leichtigkeit im Spiel zu bewahren.
-Füllkrug ragt heraus
Eine Mannschaft ist so gut, wie ihre Ersatzspieler. Das Paradebeispiel sind die Spanier. Da wird zum Vorrundenabschluss fast die komplette Stamm-Elf auf die Bank gesetzt und trotzdem gewinnt die kaum weniger spielstarke B-Elf gegen Albanien. In den drei Begegnungen hat Nagelsmann insgesamt elf Spieler eingewechselt, aber richtig für sich Werbung gemacht haben mit ihren Leistungen nur Niclas Füllkrug und David Raum. Füllkrugs Wucht und Lufthoheit sind die perfekte Alternative zu den Boden-Künstlern Musiala, Wirtz und Ilkay Gündogan. Außer dem Dortmunder hat zuletzt auch der Leipziger David Raum als Außenbahnspieler und Tor-Vorbereiter frischen Wind gebracht. Der bereits zwei Mal zum Einsatz gekommene Emre Can spielt das, was er kann, ist aber kein Mann für Überraschungen. Auch schon eingewechselt wurden die VfB-Akteure Chris Führich und Deniz Undav. Sie konnten wenig Akzente setzen, was aber auch daran liegt, das Nagelsmann selten vor der 60. Minute, meist erst später wechselt. Wer den Nachweis bisher nicht erbracht hat, eine Verstärkung zu sein, ist Leroy Sané. Der Münchner kam jedes Mal in der zweiten Halbzeit ins Spiel, legte aber stark schwankende Leistungen auf den Rasen. In der Breite muss von der Bank mehr kommen, um in schwierigen Situationen neue Impulse zu setzen. Vor allem, wenn nun in der K.o.-Runde die Gegner von einem anderen Kaliber als in der Vorrunde sein werden. (GEA)