STUTTGART. Das Hoffen und Bangen ist vorbei und trotzdem heißt es nun, weiter die Muskeln spielen zu lassen und sich sofort für die Olympischen Spiele 2020 in Tokio vorzubereiten. Schließlich ist der deutschen Männer-Riege bei der Heim-WM in Stuttgart nur hauchdünn mit Platz zwölf die Olympia-Qualifikation geglückt. Damit hatten sie eine fast historisch zu nennende Pleite verhindert, denn noch nie zuvor haben deutsche Kunstturner eine Olympia-Qualifikation verpasst.
So zeigte sich Wolfgang Willam, der Sportdirektor des Deutschen Turner-Bundes (DTB), denn auch restlos erleichtert darüber, dass die Männer wie zuvor schon die Frauen das Ticket nach Tokio gelöst hatten. »Ich bin dem Team dankbar, dass es das Ding tatsächlich gerockt hat, denn eine Nicht-Qualifikation wäre einem Erdrutsch nahegekommen«, sagte er, zeigte sich aber besorgt. Auch wenn man dank der Olympia-Teilnahme jetzt erst einmal substanziellen Fragen aus dem Weg gegangen sei, gelte es, so Willam, trotzdem grundsätzlich alles kritisch zu analysieren, um künftig international wieder besser mithalten zu können. »Der plakative Vorwurf an uns, dass wir die Nachwuchsarbeit verschlafen und vernachlässigt hätten, stimmt aber nicht.« Dass die Jungs darüber hinaus drei Einzel-Finals erreicht hätten, das hätte er im Vorfeld nicht prognostiziert. Gleichwohl gelte es nun, Mehrkämpfer auszubilden.
In Tokio dürfen nach einer Regeländerung statt bislang fünf nur insgesamt vier Turner eingesetzt werden. Daher ist es wichtig, ganz stabile Mehrkämpfer zu den Spielen zu schicken, denn bei drei Turnern pro Gerät (18 Übungen) gibt es zudem keine Streichwertung mehr. So wird jeder Wackler, jeder Sturz die Gesamtnote drücken, weshalb alle noch vielseitiger trainieren müssten, erklärte Bundestrainer Andreas Hirsch: »Man fühlt sich jetzt erleichtert, weil wir uns freigeschossen haben. Aber klar haben wir das Zeug, bei den Olympischen Spielen noch besser zu turnen.« Nachdem es für die Heim-WM wichtig gewesen sei, sich auf die Sicherheit und Stabilität in den Übungen der Athleten zu konzentrieren, müsste man in Zukunft die Athleten auch darauf vorbereiten, trotz aller Nervosität und Versagensangst, Leistung auch auf einer goßen Bühne wie bei einer WM abrufen zu können. »Wir arbeiten mit willigen Athleten, doch das müssen wir noch mehr in sie hineinbekommen.«
Aufgrund von Verletzungen wie bei Marcel Nguyen und der nicht einfach so fortzusetzenden goldenen Generation, wie man sie mit dem Jahrgang 1987 um Fabian Hambüchen, Marcel Nguyen, Philipp Boy und Matthias Fahrig hatte, erlebe man zurzeit aber trotzdem kein Drama. »Es ist eine wellenartige Bewegung«, sagte dazu der nun 29 Jahre alte Andreas Toba. »Es steht nicht schlecht um unseren Nachwuchs. Wir haben sehr wohl gute Talente, aber es dauert eben, bis sie an internationales Niveau herangeführt werden und Konstanz an allen Geräten zeigen können«, erklärte er. Toba plant wie sein Freund Nguyen, nach der Karriere definitiv selbst Turn-Trainer zu werden.
Doch zuerst hat der zuverlässige Mehrkämpfer noch seine eigene, bislang größte sportliche Herausforderung vor der Brust. Am Tag vor seinem 29. Geburtstag hatte er sich im Teamwettkampf zugleich für das Mehrkampf-Einzelfinale qualifiziert, das für ihn nun am Freitag steigt. »Da habe ich dann noch ein paar Kleinigkeiten gut zu machen, denn es war nur ein durchschnittlicher Wettkampf von mir. Ich habe noch Luft für ein paar Zehntelchen nach oben.« Konkret meinte er seinen Abgang vom Barren und das Reck. Toba: » Das kann ich deutlich besser und ich will nicht wieder auf Fehler der Konkurrenten hoffen.«
Unterstützung der Fans wichtig
Auf den einmaligen Zuschauerzuspruch hofft Toba, der dafür bekannt ist, dass er jedes Element bis zur Perfektion einübt, aber sehr wohl. »Ich habe die Anfeuerung der Fans echt wahrgenommen und das hat mich gepusht. Zum Beispiel am Pferd, als ich einen winzigen Augenblick keine Kraft mehr hatte und die Schreie hörte. Da dachte ich mir, das drückst du jetzt locker hoch, und so war’s dann auch.« Für einen möglichst erfolgreichen Final-Wettkampf trainiert er nun bis Freitag noch täglich vier bis fünf Stunden. Gleiches haben seine Teamkollegen vor. Nick Klessing erreichte das Ringe-Finale und Lukas Dauser das Barren-Finale (beide Sonntag). Der 21 Jahre alte angehende Polizist Klessing aus Sachsen meinte zwar, er sei selbst »sehr überrascht, aber sehr happy«, seine beste Ringe-Übung der letzten Zeit abgerufen zu haben und will dies noch einmal versuchen. Teamkapitän Lukas Dauser aus Unterhaching, der nach der Quali sogar als Gold-Kandidat im Barren-Finale startet, sieht sich vor einem sehr engen Wettkampf: »Da werden Kleinigkeiten entscheiden, aber ich empfinde keinen Druck. Im Gegenteil, ich fühle mich jetzt sogar sehr befreit.«
Der 26 Jahre alte Sportsoldat, der 2017 einen Kreuzbandriss hatte, dann drei Monaten vor der WM einen Handbruch erlitt und dazu noch drei Wochen vor der WM an einer Fußverletzung laborierte, sodass er in der Quali keinen Mehrkampf absolvieren konnte, findet es »einfach nur geil, dass das Team zu Olympia kam«. Die öffentliche Aufmerksamkeit dadurch sei für den deutschen Turnsport eminent wichtig. »Nun will ich allein nochmals zeigen, was ich kann«, verriet Dauser und will dafür sich an seinen großen turnerischen Vorbildern Nguyen und Hambüchen orientieren. »Ich will es technisch wie Marcel und vom Kampfgeist wie Fabi für mich hinkriegen«. (GEA)