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Aktuell Rassismus

Fußball-Weltmeister Thuram in Stuttgart: »Bin mit neun Jahren schwarz geworden«

Der ehemalige Weltklassespieler Lilian Thuram berichtet von seinen rassistischen Erfahrungen und erzählt, warum wir auch heute noch ein großes Problem haben.

Lilian Thuram macht sich für mehr Toleranz stark.
Lilian Thuram macht sich für mehr Toleranz stark. Foto: TayDucLam
Lilian Thuram macht sich für mehr Toleranz stark.
Foto: TayDucLam

STUTTGART. »Du dreckiger Schwarzer«. Mit neun Jahren wird der französische Fußball Welt- und Europameister Lilian Thuram das erste Mal in seinem Leben mit diesen Worten beschimpft und erfährt, was Rassismus bedeutet. Es wird nicht die einzige Situation bleiben – aber ein besonders prägendes Erlebnis. In Stuttgart erzählt der 52-Jährige ehemalige Weltklassespieler von seinen Erfahrungen, warum wir auch heute im Sport und der Gesellschaft ein großes Problem haben und wo wir ansetzen müssten.

»Ich sage immer, dass ich mit neun Jahren schwarz geworden bin«, erzählt Thuram bei einem Podium. Der ehemalige Profi von Juventus Turin und dem FC Barcelona nimmt aber zunächst in seinem Sessel Platz und winkt fast ein wenig bescheiden ins Publikum. Dann erklärt er, was er mit seiner Aussage meint. Denn mit eben neun Jahren zog Thuram, der in Guadeloupe geboren ist, nach Paris. Erst dort »bin ich komisch angeschaut worden. Und in der Schule beleidigt. Weil ich anders aussah.«

»Die sind schnell und so wild, dass sie selbst nicht wissen, was sie machen«

Nach dem Vorfall in der vierten Klasse suchte er Rat bei seiner Mutter. Die sagte: »Das ist Rassismus. Das wird auch niemals weggehen.« Dieser Satz bewahrheitete sich im Leben Thurams und auch in dem seiner erfolgreichen Söhne Marcus und Kephren, die bei Inter Mailand und dem OSG Nizza spielen. Exemplarisch für den »heute ganz gewöhnlichen Rassismus, den Nicht-Weiße erfahren«, war ein Telefonat des ehemaligen Verteidigers mit seinem Jugendfreund Pierre. Einst fragt er ihn: »Wenn ich schwarz bin, was bist du dann eigentlich?« Pierres Antwort: »Ich bin normal.« Eine Aussage, die für Thuram symptomatisch für noch immer unterschiedlich gewertete Klassen- und Rollenbilder in unserer Gesellschaft steht.

»Es geht darum, sich besser als jemand anderes zu stellen«, denkt Thuram. Unsere moderne Welt baut aufgrund unserer Geschichte auf einer Ordnung auf, die auf der Hautfarbe basiert, sagt er mit Blick auf prägende Phasen des Kolonialismus. »Wir müssen Geschichte hinterfragen, dürfen es nicht akzeptieren«, fordert er. Noch immer seien Denkmuster aus diesen Zeiten tief in uns verankert, ohne aktiv etwas Negatives zu wollen.

»Es ist häufig so, dass Schwarze auf ihren großen und muskulären Körper reduziert werden«

Auch im Sport: Es sei auffällig, dass es im Profi-Fußball beispielsweise nur wenige farbige Top-Trainer und Torhüter gebe. Für den Weltmeister ist das aber nicht verwunderlich. »Wenn man in einer Welt aufwächst, in der einem erzählt wird, schwarze Torhüter sind unzuverlässig, dann glaubt man das irgendwann und will kein Torwart werden«, sagt Thuram. »Genau in einer solchen Welt bin ich groß geworden.« Anders war das Standing farbiger Verteidiger wie ihm selbst. Über die sei gesagt worden: »Die sind schnell und so wild, dass sie selbst nicht wissen, was sie machen und den Gegner damit vor Schwierigkeiten stellen.«

Mittlerweile habe sich im Fußball zwar viel getan, doch immer wieder würden Spieler Rassismus und Vorurteilen begegnen. Eines der gängigsten: »Es ist häufig so, dass Schwarze auf ihren großen und muskulären Körper reduziert werden.« Abgesprochen würden ihnen dagegen strategische und taktische Fähigkeiten. Diese These belegt Sportjournalist Ronny Blaschke. »Studien zeigen: Spielpositionen, von denen man Weitsicht und Spielintelligenz vermutet, sind in der Bundesliga überproportional mit weißen Spielern besetzt«, sagt er im SWR. »Die kraftvollen Positionen, die Stürmer und die Außenbahn, die viel laufen müssen, da sind überproportional viele schwarze Spieler zu finden.«

»Es geht um das Selbstvertrauen, das angegriffen wird«

Wie tief verwurzelt das Problem weiterhin ist, zeigten Lilian Thuram auch seine Söhne. Während der Schulzeit erzählte Marcus seinem Vater, dass Mathematik für ihn ja viel schwieriger sei, weil er schwarz ist. Eine Lehrerin riet Sohn Kephren, sich die langen Dreadlocks abzuschneiden. Das konnte der Vater nicht auf sich sitzen lassen, ging in die Schule und sagte der Lehrerin: »Hier gibt es viele Mädchen, die auch lange Haare haben. Sagen sie denen auch, dass sie sich die Haare abschneiden sollen? Ich habe sie auch gefragt, ob sie ihn nicht fragen will, ob er auch seine Hautfarbe ändern soll. Da konnte sie nichts mehr dazu sagen.«

Ein solcher noch immer vorherrschender Rassismus sei eine »schreckliche Form der Gewalt. Es geht um das Selbstvertrauen, das angegriffen wird«, weiß Thuram. Deshalb sei es so wichtig, darüber zu sprechen. »Nur ist es häufig so, dass einem nicht geglaubt wird.« Dann wird gesagt: »Geht nicht in die Opferrolle.« Dabei sei das gar nicht der Gedanke. »Wir sehen uns nicht als Opfer. Wir wollen die Geschichte aus unserer Perspektive erzählen. Es geht darum, wie wir als Menschen miteinander umgehen.« Seit Jahren macht es sich der ehemalige Fußballer zur Aufgabe, auf das Problem aufmerksam zu machen und vor allem junge Leute zu schützen. Dafür gründete er eine Stiftung, die Bildung im Kampf gegen den Rassismus weitergibt. Nicht nur auf dem Spielfeld war der Franzose als Kämpfer bekannt. Heute kämpft er dafür, »dass alle Kinder lernen, sich zu lieben, um mündige Bürger zu werden«. Nur so lasse sich etwas verändern. Über allem steht dieses eine Ziel: »Dass jeder normal ist.« (GEA)