BERLIN. Im Moment fehlt er. Den Spielern, den Fans, und natürlich auch den Journalisten. Der Jubel nach Toren, nach großen Siegen oder kleinen Erfolgen. »Jubel ist in der Bundesliga eigentlich nichts Besonderes«, sagt Sebastian Wells. Und dennoch hat der Fotograf einen ganz besonderen Jubel eingefangen. Sein Bild »der Schrei« wurde zum Sportfoto des Jahres 2019 gekürt.
Es ist nicht das erste Mal, dass Wells sich die Auszeichnung schnappt, die das Magazin Kicker zusammen mit dem Verband Deutscher Sportjournalisten verleiht. Schon 2016 wurde er mit dem Preis geehrt. Damals war er 20 Jahre jung, heute ist er 23. Ein Alter, in dem viele ins Berufsleben einsteigen. Der Berliner aber hat schon einiges erlebt. Bei Welt- und Europameisterschaften im Fußball und in anderen Sportarten hat er fotografiert, bei Olympischen Sommer- und Winterspielen. Ein typischer Sportfotograf aber ist er nicht. Für seine Abschlussarbeit an der Ostkreuzschule erstellte er eine Reihe von Bildern aus Flüchtlingslagern rund um die Welt. Der Berliner sucht das abseitige Motiv, den Menschen neben dem Ereignis, den speziellen Moment.
»Es ist das erste Derby der beiden Berliner Clubs. Und dann gewinnt auch noch der Underdog«
Einen davon fand er am 2. November 2019. »Fotografenglück«, sagt Wells bescheiden: »Ich stand zur richtigen Zeit am richtigen Ort.« Wenn man nachfragt, dann erinnert er sich doch, dass er hingerannt ist in den Korridor zwischen Fanblock und Werbebande, um genau diese Szene einzufangen: Nachdem Sebastian Polter im Stadtderby gegen Hertha BSC in der 87. Minute für Union Berlin zum 1:0 trifft, rennt der Stürmer mit drei Mannschaftskollegen dorthin. Es ist fast klar, das ist der Sieg für Union. »Das hat den Moment so besonders gemacht«, sagt Wells: »Es war das erste Bundesliga-Derby der beiden Berliner Clubs. Und dann gewinnt auch noch der Underdog. All das liegt in diesem Jubel, der sich zusammen mit den Stimmen der 20 000 Fans zu einem einzigen Schrei vermischt.« Dazu kommt der Aufbau des Bildes. »Dass vier Menschen aufgereiht in so einer perfekten Linie synchron schreien, das kommt selten vor«, sagt Wells. Und auch, dass man den Fußballern so nahe kommt. Braucht es Mut, sich der schreienden Meute zu stellen? »Nein«, sagt Wells und lacht: »Die schreien ja nicht mich an, und die fressen mich auch nicht auf.« Die Nähe erzeugte auch die Ausrüstung. Wells geht selten mit großen Objektiven los. »Ich muss nicht den ganzen Platz im Blick haben und jede Szene erwischen.« Wells jagt keine Bilder, er wartet lieber, bis sie zu ihm kommen. Das braucht Gelassenheit und Geduld. Und das Wissen, dass sich beides auszahlt. Dass es ein gutes Bild werden würde, wusste Wells schnell. Dass es ein Kandidat für das Sportfoto des Jahres ist? »Im Leben habe ich nicht daran gedacht. Als ich den Anruf bekam, meldete sich ein Jurymitglied und sagte: Hallo, Sie haben im Lotto gewonnen. Ich dachte nie und nimmer, dass ich auf dem ersten Platz gelandet bin.«
Drei Jahre zuvor hatte Wells schon einmal einen ähnlichen Anruf erhalten. Bei Olympia 2016 in Rio hatte er in einem Graben gestanden über den sich Sprintstar Usain Bolt beugte, um mit den Fans zu feiern. Olympia, da wäre Wells auch in diesem Jahr gewesen. Die Corona-Pandemie hat die Austragung der Spiele verhindert.
»Dass vier Menschen in einer synchronen Linie perfekt schreien, das kommt ganz selten vor«
Was macht ein Fotograf ohne Ereignis? Er erlebt seine Geburtsstadt ganz neu. »Ich mache in Berlin gerade das, was ich normalerweise auf meinen Reisen mache: Ich lasse mich durch die Stadt treiben.« Wie er die Hauptstadt gerade wahrnimmt? »Wenn ich Bilder aus anderen Großstädten sehe, kommt es mir fast wie ein kleines Paradies vor«, sagt Wells und erklärt: »Viele Straßen sind leer, die Geschäfte, Clubs, Bars sind zu. An vielen Stellen, wie etwa am Alexanderplatz, wirkt die Stadt wie ein Denkmal ihrer selbst. Aber die Berliner lassen sich nicht unterkriegen, sie trotzen dem Virus und gehen raus. Es gibt zahlreiche grüne Stellen in der Stadt, die dazu beitragen, dass vieles weniger bedrohlich erscheint.«
Wells hält diese Szenen in seinen Bildern fest. Bis ihm mal wieder ein befreiter Jubel vor die Kamera kommt, dürfte es dauern. Aber manchmal reicht ja auch ein Lächeln. Dieser junge talentierte Fotograf hat das Zeug zu mehr, die deutsche Regionalzeitungskooperation hat ihn nicht nur deshalb früh gefördert. (GEA)