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Aktuell INTERVIEW

Ehemaliger Tübinger kommentiert nun Geisterspiele in Italien

Lukas Esser spricht mit dem GEA über den Liga-Neustart in Italien, Fußball und die Italiener, und die Kunst, Geisterspiele zu kommentieren

Fußball-Kommentator Lukas Esser vor der diesjährigen Champions-League-Partie Atletico Madrid gegen FC Liverpool im Wanda Metropo
Fußball-Kommentator Lukas Esser vor der diesjährigen Champions-League-Partie Atletico Madrid gegen FC Liverpool im Wanda Metropolitano. In der Hand hält er den Pokal für den Spieler des Spiels. Die Trophäe erhielt später der Brasilianer Renan Lodi. FOTO: PRIVAT
Fußball-Kommentator Lukas Esser vor der diesjährigen Champions-League-Partie Atletico Madrid gegen FC Liverpool im Wanda Metropolitano. In der Hand hält er den Pokal für den Spieler des Spiels. Die Trophäe erhielt später der Brasilianer Renan Lodi. FOTO: PRIVAT

REUTLINGEN. Italien war sehr früh und besonders stark von der Corona-Pandemie betroffen. Nach dem Stopp der Serie A im März rollt heute auch dort wieder der Fußball – wie in der Bundesliga ohne Zuschauer. »Geisterspiele zu kommentieren, ist nicht so leicht«, sagt der ehemalige Tübinger Lukas Esser (30), der als Fußball-Kommentator für einen Schweizer Pay-TV-Sender Teleclub in Zürich arbeitet. Am Mikrofon ist er bei Spielen der Champions und Europa League. Vorrangig ist er aber für die italienische Liga zuständig. Am Sonntag sitzt er bei der Partie Inter Mailand gegen Sampdoria Genua wieder in der Kommentatorenkabine.

GEA: Die Corona-Situation hat sich mittlerweile etwas verbessert. Wie groß ist die Vorfreude bei den Italienern auf den Neustart der Serie A?

Lukas Esser: Hinter den Fans liegt eine lange und harte Fastenzeit. Ab Morgen dürfen sie endlich wieder am Büffet zuschlagen und der Hunger auf Fußball ist riesig. Die Fortsetzung der Saison ist ein wichtiger Schritt in Richtung gefühlte Normalität. Die Spiele sind eine willkommene Ablenkung und geben Hoffnung in einer schweren Zeit, auch wenn keine Zuschauer in die Arenen dürfen.

Was bedeutet der Fußball denn für die Italiener?

Esser: Fußball ist etwas Heiliges in Italien. Für viele Menschen ist er wichtiger Bestandteil ihres Lebens, und die emotionale Verbundenheit ist extrem hoch. Das zeigt sich auch immer wieder kurz vor Spielen, wenn Fans lautstark die Vereinshymnen mitsingen. Also ich bekomme da Gänsehaut. Ihren geliebten Calcio lassen sich die Italiener nur ungern nehmen. Durch die Unterbrechung der Serie A im März war klar, die Lage im Land muss sehr ernst sein.

»Es ist wichtig, keine künstlichen Emotionen zu erzeugen«

Was ändert sich für einen Kommentator bei Geisterspielen?

Esser: Meine Fähigkeiten, eine Taste dauernd zu drücken, werden geschult (lacht). Für Kommentatoren gibt es eine Stummschalt-Taste. Wenn wir die drücken, sind wir für den Fernsehzuschauer nicht mehr zu hören. Bei Geisterspielen ist die Funktion sehr wichtig, weil keine Stadionzuschauer zu hören sind. Wenn ich also etwas aufschreibe, eine Wasserflasche aufmache oder huste, muss ich zwingend die Mute-Taste drücken. Ansonsten hört der Fernsehzuschauer die Geräusche recht deutlich in der Übertragung.

Und worauf ist beim Kommentieren jetzt zu achten? Stichwort Rhetorik.

Esser: Tendenziell besteht die Gefahr, bei Geisterspielen zu viel zu reden, die ruhige Stadionatmosphäre verleitet dazu. Aber es gehört auch hierbei dazu, nicht 90 Minuten durch zu texten. Die Emotionalität ist natürlich nicht so gegeben wie bei Spielen mit Zuschauern. Hier muss man beim Kommentieren einen passenden Rahmen finden. Es ist wichtig, keine künstlichen Emotionen zu erzeugen.

Haben Sie denn schon Erfahrungen mit Spielen ohne Zuschauer?

Esser: Geisterspiele gibt es nicht so oft, aber ab und zu legt die Katze eins vor die Türe. In der Saison 2018/19 hab ich Roter Stern Belgrad gegen Salzburg kommentiert. Das Play-off der Champions League fand ohne Zuschauer statt. Serbische Fans hatten im Knigge-Unterricht vermutlich geschlafen und waren in den Qualifikationsrunden zuvor verhaltensauffällig. Die Uefa verhängte Geisterspiele. Und am Anfang der Corona-Zeit habe ich auch ein paar Geisterspiele kommentiert.

Manche TV-Sender blenden inzwischen eine Tonspur mit eingespielter Stadionatmosphäre ein. Was ist Ihre Meinung dazu?

Esser: Für mich wär das nichts. Fangesänge aus den Boxen passen im Normalfall nicht zu den Aktionen auf dem Spielfeld. Richtige Fans reagieren ja auf die Ereignisse in der Partie.

Wir haben über die fehlenden Fans in den Stadien geredet. Welche Änderungen wird es in der Serie A noch geben?

Esser: Ganz wichtig: neue Anstoßzeiten. In Italien sind die Sommer erfahrungsgemäß nicht allzu frostig. Um die Spieler vor den hohen Temperaturen zu schützen, werden die Partien deutlich später angepfiffen. Dann gibt es noch kleinere Änderungen wie zum Beispiel bei den Übertragungen. Es werden andere Fernsehbilder im Vorlauf der Partien zu sehen sein. Durch die Corona-Bestimmungen darf nicht aus den Kabinen der Mannschaften gesendet werden. Es gibt keine Einlaufkinder und auch keine Mannschaftsfotos.

Am Sonntag steht das Spiel Inter Mailand gegen Sampdoria Genua an, das Sie kommentieren werden. Ihr Tipp?

Esser: Nach der langen Pause ist die Glaskugelfunktion natürlich sehr eingeschränkt und es ist nicht einfach, Vorhersagen zu treffen. Ich denke, dass es überraschende Ergebnisse geben kann. Aber Inter hat die höhere Qualität und ist natürlich der Favorit. Wenn die Mailänder noch eine Chance auf den Titel haben wollen, müssen drei Punkte her. Die Partie ist ein Nachholspiel, bei einem Sieg hätte Inter immer noch sechs Punkte Rückstand auf Tabellenführer Juve.

Lazio Rom liegt nur einen Punkt hinter Juventus Turin. Sie könnten seit 20 Jahren wieder Meister werden. Wie schätzen Sie die Lage an der Tabellenspitze ein?

Esser: Die aktuelle Saison ist auf jeden Fall sehr spannend, auch wenn Juventus mal wieder ganz oben im Tableau steht. Am Anfang der Runde rangierte dort Inter Mailand. Vor der Corona-Pause war Lazio extrem stark und ist seit 21 Partien ohne Niederlage. Wenn sie ähnlich stark weitermachen, ist vieles möglich. Mitte Juli gibt es noch das direkte Duell bei Juve. Lazio hat den italienischen Rekordmeister in der Saison bereits zweimal geschlagen. In der Hinrunde gewannen die Römer das Duell mit 3:1. Kurz vor Weihnachten holte Lazio den italienischen Supercup durch das gleiche Ergebnis gegen die Bianconeri. Trotzdem glaube ich, dass Juventus Turin seine neunte Meisterschaft in Folge holen wird. (GEA)

ZUR PERSON

Lukas Esser, geboren am 19. Januar 1990 in Filderstadt, hat Sportpublizistik an der Universität Tübingen studiert. Anschließend absolvierte er den Masterstudiengang Sportmanagement. Während der Studienzeit arbeitete er als freier Mitarbeiter im Stuttgarter SWR-Studio. Er moderiert seit sieben Jahren den Tübinger Erbe-Lauf. Seit 2018 kommentiert er für einen Schweizer Pay-TV-Sender Teleclub Spiele der Champions League und Europa League sowie der italienischen Seria A. (stan)