HERZOGENAURACH. Blau-weißer Himmel, sattgrüner Rasen und ein prächtiger Blick über die fränkische Schweiz: Es herrschten mal wieder perfekte Bedingungen bei der deutschen Nationalmannschaft auf dem Firmengelände des DFB-Ausrüsters in Herzogenaurach, als die Spieler am Dienstagvormittag mit fast halbstündiger Verspätung auf den gepflegten Trainingsplatz spazierten. Wie Kapitän Joshua Kimmich verriet, sei es ausdrücklicher Wunsch aus der Mannschaft gewesen, noch mit der U 21-Auswahl zu tauschen – die wohnt nun in einem Stadthotel von München und trainiert auf dem Campus des FC Bayern.
Auf dem Homeground des Weltkonzerns Adidas erklärte derweil Co-Trainer Sandro Wagner lautstark die erste Spielform, bei der sich Kevin Schade und Jamie Leveling an den Flügeln postierten, um alsbald die Bälle mit viel Karacho auf Tim Kleindienst zu flanken. Die Kombination leitete übrigens Jonathan Burkardt ein.
Vier Profis, die vor wenigen Tagen wohl kaum jemand für die anstehenden Nations-League-Aufgaben gegen Bosnien und Herzegowina in Zenica (Freitag 20.45 Uhr/RTL) und dann gegen die Niederlande in München (20.45 Uhr/ZDF) auf dem Zettel hatte. »Es ist echt verrückt. Gefühlt ist die halbe Mannschaft weg und es sind zehn Neue dabei«, konstatierte Kimmich mit ehrlichem Erstaunen. Nach Marc-André ter Stegen, Jamal Musial, Niclas Füllkrug, Robin Koch und Kai Havertz musste kurzfristig auch noch David Raum passen, weshalb sogar Robin Gosens noch nachträglich eine Einladung erhielt.
Bundestrainer Julian Nagelsmann ist zu viel mehr Nachbesetzungen gezwungen als gewünscht, aber nicht mal in Ansätzen wollte Kimmich daraus irgendeinen Verdacht ableiten. Es habe sich schließlich ein »anderes Verantwortungsgefühl« für die Nationalelf entwickelt.
»Es ist etwas ganz Besonderes, Nationalspieler sein zu dürfen«
Früher habe der eine oder andere eine Länderspielpause als solche begriffen, diesmal "sind die Spieler wirklich verletzt – da schont sich keiner." Demonstrativ strahlte der 29-Jährige jene Begeisterung fürs DFB-Dress aus, die bei den Partien gegen Ungarn (5:0) und die Niederlande (2:2) zu besichtigen war. »Es ist etwas ganz Besonderes, Nationalspieler sein zu dürfen«, sagte der ehrgeizige Vielspieler. "Ob man einhundert Länderspiele hat oder drei, ob man 34 ist oder 19."
Nun sollen sich eben »neue Spieler, die hungrig sind und viel Energie mitbringen« (Kimmich) zeigen, gleichwohl werde vielleicht im Oktober nicht mehr alles so glatt laufen wie im September: »Es ist schwierig, das aufzufangen. Denn es ist nicht so, dass wir den Kern der Mannschaft schon seit fünf Jahren haben«, merkte der Anführer an. Auffällig, wie sein Arbeitgeber FC Bayern die Rolle als wichtigster Zulieferer eingebüßt hat. Früher fuhr die Münchner Abordnung im Kleinbus vor, heute reicht ein Kleinwagen.
Neben Aleksandar Pavlovic ist immerhin noch Serge Gnabry dabei; der gute Kumpel von Kimmich, der bei dessen Hochzeit sogar den Trauzeugen gab. Wie es sich für gute Freunde gehört, erschienen am Dienstag beide gemeinsam in der Mixed Zone, wobei Gnabry zu vielen Themen gar nichts sagen konnte oder wollte. Wer bei einer fast einjährigen Auszeit wegen Verletzungsproblemen und Formschwäche fehlt, hat einiges versäumt. Insbesondere die verpasste Heim-EM hat den nicht immer bestens beleumundeten Dribbler getroffen. »Es war extrem bitter, da außen vor zu sein.« Dabei hatte der Offensivmann dank seiner Dynamik, Schnelligkeit und Torgefährlichkeit mal eine Phase, in der Ex-Bundestrainer Joachim Löw konstatierte: »Serge spielt bei mir immer!« Fünf Jahre ist das her – heute ist der 29-Jährige heilfroh über die Rückkehr unter Nagelsmann, der ihn bereits bei der TSG Hoffenheim trainierte. »Ich will zeigen, dass ich gut in Form. Ich bringe ein gesundes Selbstbewusstsein mit.« Ganz nebenbei ist er ja mit seinen 22 Toren in 45 Länderspielen auch der Topscorer im Kader. Beim Spitzenspiel der Bayern in Frankfurt (3:3) stachen zwar andere Protagonisten hervor, doch bei Gnabry fielen die vielen Vollsprints gegen den Ball positiv auf.
Vielleicht ahnt da einer, dass er mit Blickrichtung auf die WM 2026 Vollgas geben muss, will er noch einen Fußabdruck auf einer solchen Bühne hinterlassen. Wenn er auf seine vor acht Jahren mit einem Dreierpack gegen San Marino begonnene DFB-Karriere blicke, falle ihm natürlich auf, »leider titellos« zu sein, »und das ist das, was trotz aller persönlichen Leistungen am meisten zählt.« Nagelsmann will es noch einmal mit Gnabry »nach einem sehr schweren Jahr« versuchen, weil der Basketballfan nicht zuletzt mit dem Champions-League-Triumph 2020 bewiesen hat, dass er auf internationalem Topniveau reüssieren kann, wenn er sein Leistungsniveau abruft. Deshalb ist auch Kimmich beim Comeback seines engen Vertrauten überaus zuversichtlich: »Serge macht zwei, drei Dinger rein und wir gewinnen.« (GEA)