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Der SSV Reutlingen steht am Abgrund

Der Abstieg aus der Fußball-Oberliga droht - was läuft beim SSV Reutlingen seit einiger Zeit schief?

Jonah Adrovic und der SSV Reutlingen sind am Straucheln.
Jonah Adrovic und der SSV Reutlingen sind am Straucheln. Foto: JoBaur
Jonah Adrovic und der SSV Reutlingen sind am Straucheln.
Foto: JoBaur

REUTLINGEN. Wie konnte das passieren? Was läuft im Verein schief? Die Fußball-Fans in der Region fragen sich, weshalb der SSV Reutlingen in diese Schieflage geraten konnte. Nun droht sogar der Abstieg aus der Oberliga, der Sturz in die Sechstklassigkeit. Noch gibt es eine klitzekleine Chance, den Verbleib im baden-württembergischen Oberhaus zu realisieren. Das Team von Trainer Philipp Reitter muss am Samstag (15.30 Uhr) im Kreuzeiche-Stadion den ATSV Mutschelbach besiegen und auf Ausrutscher der Konkurrenten im Abstiegskampf hoffen.

Man kann es drehen und wenden wie man will: Das Dilemma begann im Dezember 2022 mit der Trennung von Trainer Albert Lennerth und der Inthronisierung von Maik Stingel. Der SSV stand mit 26 Punkten aus 20 Spielen an neunter Stelle. Das Fatale: Die Verantwortlichen des Kreuzeiche-Clubs haben die Entscheidung, Lennerth von seinen Aufgaben zu entbinden, nie klar kommuniziert. Selbst die Spieler konnten sich keinen Reim darauf machen, und die Anhänger erst recht nicht. »Das war im Rückblick in Sachen Kommunikation ein Fehler«, gab kürzlich der Aufsichtsrats-Vorsitzende Mario Kolb zu.

Katastrophale Bilanz von Stingel

Stingel, der im Jahr zuvor die SSV-A-Junioren zur Oberliga-Meisterschaft und damit in die Bundesliga geführt hatte, legte mit der Ersten ein katastrophales Jahr 2023 hin. Ob ihm das Glück fehlte oder ob er den Oberliga-Männer-Fußball viel zu naiv in Angriff nahm? Die Spieler, und das muss man festhalten, lobten die Trainingsinhalte und das Fachwissen von Stingel. Doch im zwischenmenschlichen Bereich hakte es. Stingel gelobte Besserung. In der laufenden Saison stand ihm - zumindest glaubten das bis vor Kurzem alle Kenner der Oberliga - ein Kader zur Verfügung, mit dem ein sicherer Mittelfeldplatz hätte herausspringen müssen. Im Nachhinein ist klar: Der Verein hätte die Spielzeit 2023/24 mit einem neuen Übungsleiter in Angriff nehmen müssen.

Wieder zog der SSV in der Winterpause die Reißleine. Stingel musste gehen, das Duo Reitter/Rasmus Joost rückte an die vorderste Front. Ein Duo, so hatte es den Anschein, das sich gut ergänzt. Jeder hat seine Stärken, die er einbringen kann. Bitter, dass Joost ziemlich schnell aus gesundheitlichen Gründen zurücktreten musste. Mittlerweile ist man wieder ein Stückchen schlauer. »Vielleicht bräuchten wir mal einen ganz anderen Trainertyp«, sagte ein Spieler bereits vor der Entscheidung für Reitter und Joost, die übrigens vergangene Saison nach dem Absprung von Stingel zur Ersten bei den Bundesliga-A-Junioren einen exzellenten Job verrichteten. Ein ehemaliger gestandener Reutlinger Akteur sagte kürzlich gegenüber dem GEA: »Der Mannschaft hätte ein Trainer wie Teo Rus gut getan, der auch mal einen Schrei hinauslässt.«

Nur sieben Punkte in den zurückliegenden neun Spielen

Unter der Regie von Reitter haben die Mannen um Kapitän Denis Lübke einen ordentlichen Start ins neue Jahr hingelegt. Bis zum Spiel beim Offenburger FV, wo eine zugegeben stark ersatzgeschwächte Mannschaft 2:3 verlor. Die Pleite beim abgeschlagenen Schlusslicht - das war der Anfang vom ziemlich wahrscheinlichen Absturz in die Verbandsliga. Seither hat der SSV in neun Begegnungen nur sieben Punkte geholt. Das ist die Bilanz eines Absteigers.

Nicht nur die magere Punktausbeute bereitet Anlass zur Sorge. Die Art und Weise, wie einige Niederlagen zustande kamen, ist besorgniserregend. Die Mannschaft brach immer wieder in der zweiten Hälfte ein. Weshalb der Fitnesszustand einiger Spieler im Argen liegt, darüber gibt es diverse Erklärungsansätze. Unterschreiben kann man sicherlich die These, dass sich mehrere Akteure über Wochen hinweg mit Verletzungen herumplagten, deshalb das Trainingspensum nicht leisten und letztlich im Spiel nicht mehr Vollgas geben konnten. Andererseits sollte jeder Spieler möglichst viel Selbstverantwortung übernehmen, um sich in einen guten Fitnesszustand zu bringen. Möglicherweise hätte die Kaderbreite besser ausgeschöpft werden können.

Zweifel an der Kader-Zusammenstellung

Dass der Sportliche Leiter Christian Grießer zuletzt in Nöttingen die Leistung in der zweiten Hälfte als »katastrophal« bezeichnete, sprach Bände. Ist das Team doch nicht so gut und ausbalanciert zusammengestellt worden, wie man zu Beginn glaubte? Stimmt der Teamgeist? Zuletzt war von Grüppchenbildung die Rede. Möglicherweise sollte man das nicht überbewerten, schließlich macht sich bei Misserfolgen schnell eine negative Grundstimmung im Team breit und wird oft viel hineininterpretiert.

Apropos Kader-Zusammenstellung: Da gab es in der jüngeren Vergangenheit einige Merkwürdigkeiten. Als man zu Beginn des Jahres 2022 nach dem Abgang von Noah Ganaus den Ex-Reutlinger Janik Michel vom FC Holzhausen hätte loseisen können, fehlte Grießer & Co. der Mumm. Michel wäre gerne an die Kreuzeiche zurückgekehrt und ein Mann mit eingebauter Torgarantie gewesen. Ein weiteres Versäumnis: Moritz Kuhn, der von der TSG Balingen kommt und nächste Saison das SSV-Trikot überstreifen wird, war in der Lennerth-Ära beim SSV im Training. Insider behaupten, der ehemalige Zweitligaspieler Kuhn hätte von Reutlingen kein Vertragsangebot erhalten. Grießer sagte kürzlich, man habe Kuhn kein Angebot unterbreiten können. Fakt ist: Kuhn schloss sich dem Regionalligisten TSG Balingen an und trumpfte dort groß auf. Beim Kreuzeiche-Club hätte er mit dieser Form Akzente setzen und Führungsaufgaben übernehmen können.

Der Unterbau fehlt

Zuletzt gab es weitere Entscheidungen und Versäumnisse, die den Beobachter ratlos zurücklassen. Vor einem Jahr hätte, in Zusammenarbeit mit dem TSV Altenburg, eine zweite Mannschaft installiert werden sollen. Das scheiterte krachend. In dieser Runde wurde ein neuer Anlauf unternommen, mit Richard Potye ein Trainer ausgewählt, doch dieses Projekt kommt erneut nicht zustande. Dabei wäre eine Zweite, die möglichst schnell mindestens in der Bezirksliga angesiedelt sein sollte, extrem wichtig für die Spieler aus der zweiten Reihe. Bei zahlreichen Oberligisten ist dieser Unterbau eine perfekte Plattform für Talente. Paradox: Talente hat der extrem gute Jugendarbeit leistende SSV extrem viele.

Für Verwunderung sorgte kürzlich die Nachricht, dass Stingel nächste Saison wieder Trainer bei den A-Junioren wird. Die Rückkehr allein ist nicht alltäglich, könnte man aber unter dem Blickwinkel verstehen, dass Stingel wohl noch unter Vertrag steht. Wobei das schon wieder die nächste Ungereimtheit ist: Jedem Spieler, auch wenn er als großes Talent gehandelt wird und möglicherweise eines Tages eine Ablösesumme generieren könnte, wird nur ein Einjahres-Vertrag angeboten, doch der Trainer Stingel wurde längerfristig an den Verein gebunden. Dass Stingel die A-Junioren übernimmt, hat zudem ein G'schmäckle. Der Verein hat vor längerer Zeit gegenüber Heiko Necker signalisiert, mit ihm weitermachen zu wollen. Necker hat daraufhin viele Spielergespräche geführt, darf nun aber nicht weitermachen. Ein Nicht-Weitermachen wäre okay gewesen, wenn das mit nicht zufriedenstellenden Ergebnissen begründet worden wäre, doch der Ton macht die Musik.

Seit zwei Jahren keine Mitgliederversammlung

Am 21. Juni 2022 wurde letztmals eine Mitgliederversammlung einberufen. Normalerweise sollte eine solche Zusammenkunft jährlich stattfinden. Dass seit knapp zwei Jahren den Mitgliedern nicht mehr Bericht erstattet wurde, ist schade, schließlich hätten das zweiköpfige Vorstands-Gremium mit Joe Yebio und Grießer sowie das Unterstützer-Team positive Nachrichten zu vermelden. Die Finanzen sollen stabil sein, die Zahl der Sponsoren wurde explosionsartig in die Höhe getrieben. Erfreuliche News, die aber nicht an den Mann oder die Frau gebracht werden. (GEA)