FREIBURG. Mit 115 Stundenkilometern Fluggeschwindigkeit stürzt der Nordische Kombinierer Finn Stütz am höchsten Punkt eines Skisprungs auf einer 140-Meter-Schanze plötzlich ins Nichts. Mit dem Kopf voraus schlägt er auf. Verliert das Bewusstsein. »Ich kann mich an nichts erinnern«, erzählt der Pfullinger über seinen Schicksalsmoment in Planica, der mittlerweile vier Jahre zurückliegt. Erst am Schanzenauslauf kommt er wieder zu sich und möchte aufstehen. »Aber ich kann nicht.« Stattdessen rennt ein Dutzend Leute auf ihn zu, um ihm zu helfen. Der damals 18-Jährige hat Glück im Unglück. Mit einem Trümmerbruch am Schlüsselbein und einer schweren Gehirnerschütterung kommt er davon. Das Leben des deutschen Top-Talents verändert sich dennoch.
Nachdem die Verletzungen auskuriert sind, versucht der Athlet des deutschen Nachwuchs-Kaders, sich wieder an die nationale Spitze der Kombinierer heranzuarbeiten. »Ich bin wieder Ski gesprungen, aber nie mehr so gut wie früher«, erzählt er im Gespräch mit dem GEA. Allerdings verpasst das Talent im Jahr 2019 große Teile der Sommervorbereitung und versucht, durch harte und intensive Einheiten den Rückstand wettzumachen. Immer im Kopf: Das Wissen, Leistung bringen zu müssen, um seinen Platz im deutschen Team zu verteidigen. Er will mit dem Kopf durch die Wand.
»Irgendwann hatte ich Angst vor Wettkämpfen«
Stütz kommt in eine Abwärtsspirale. Trainiert immer mehr, um wieder Anschluss zu finden, verliert sich dabei aber selbst. »Irgendwann hatte ich Angst vor Wettkämpfen«, erzählt er. »In meiner Paradedisziplin, dem Skispringen, läuft es nicht. Beim Langlaufen habe ich schon immer Plätze verloren. Wie soll ich das schaffen?«, beschreibt er seine Gedanken. Eine große Unzufriedenheit macht sich breit. In der Folge arbeitet er noch härter, macht weniger Pausen und setzt sich selbst noch mehr unter Druck. Er will seinen Traum leben. Muss liefern.
Einmal aus dem deutschen Junioren-Kader raus, wäre die finanzielle Unterstützung weg, das Ziel vom Profi-Dasein wohl geplatzt. Doch irgendwann geht es einfach nicht mehr. Nicht nur der Kopf macht nicht mehr mit, auch dem Körper reicht es. »Ich habe gespürt, ich kann nicht mehr trainieren.« Bei lockeren Einheiten schnellt seine Herzfrequenz in unnormale Höhen, bei intensiven Übungen will der Puls überhaupt nicht nach oben gehen.
»Als Skispringer schaffst du es nie. Probier es mit Langlaufen«
Stütz ist fertig. Zieht den Schlussstrich während der Wintersaison 2020/21. »Es war ein befreiendes Gefühl«, sagt er. »Ich konnte den Sport wieder ganz anders wahrnehmen.« Da noch einige Springen anstehen, verabschiedet er sich mit viel Spaß und ganz ohne Druck. Erkämpft sich noch einige gute Resultate und sagt dann Ciao zum Spitzensport. »Es hat sich so gut angefühlt. Ich habe es nur noch für mich gemacht und nicht für irgendeinen Kaderplatz.« Genau wie damals, als alles anfing.
Bereits mit acht Jahren stürzt sich Stütz von den Schanzen und findet großen Gefallen am Skispringen, das sich zu seinem Lebensinhalt entwickelt. "In der Schule war ich immer nur DER Skispringer. Das fand ich toll." Mit zwölf Jahren absolviert er die ersten Wettkämpfe auf nationaler Ebene. Doch es zeigt sich bereits damals die Härte des Leistungssports. Der Pfullinger ist für einen Spezialspringer groß und recht muskulös gebaut. Ein Trainer sagt zu ihm: »Als Skispringer schaffst du es nie. Probier es mit Langlaufen«, erzählt er. "Das war als Zwölfjähriger schon arg schwer zu hören."
»Es ist ein sehr schönes Gefühl«
Heute kann der 22-Jährige darüber schmunzeln. Er hat Abstand vom Trubel und Druck gewonnen, lebt ein neues Leben. Zu Beginn war das »sehr verwirrend, weil das ganze Jahr sonst durchgeplant war«, sagt Stütz. »Heute kann ich einfach in den Urlaub fahren, wenn ich möchte und auf Geburtstage von Freunden gehen.« All das war damals, als er für seinen Traum vom ganz großen Durchbruch lebte, nicht möglich. »Es ist ein sehr schönes Gefühl.«
Auch die Liebe zum Wintersport ist trotz der Entbehrungen, die er auf sich nehmen musste, geblieben. Allerdings in anderer Form. Stütz geht auf Ski-Touren und fährt Freeride. »Mir war gar nicht klar, wie sehr ich das in der anstrengenden Zeit vermisst habe«, sagt er.
Fast nebenbei meistert er sein Lehramtsstudium auf Wirtschaft und Sport. Im Vergleich zu seinen vollen Tagen in den Jugendnationalteams der Kombinierer fast ein Klacks. »Man hat trotz des Studiums ja noch so viel Freizeit«, freut er sich und schmunzelt dabei. »Ich komme auf 50 Skitage im Jahr.« Stütz hat seinen Weg gefunden und ist mit sich im Reinen. Seiner Laufbahn als Lehrer steht nichts im Weg. Die Schüler werden sich über den smarten Sportler sicher freuen. Trotz seines jungen Alters hat er ja viel zu erzählen. Eines wird er sicher weitergeben: Es geht nicht mit dem Kopf durch die Wand. (GEA)