REUTLINGEN/TÜBINGEN. »Haben die denn alle einen Knall?«, könnte so mancher flapsig fragen, wenn man beispielsweise auf die völlig ausgebuchten Schießkurse der Schützengilde Reutlingen blickt, oder auf die Reutlinger Feldbogenschützen. Nach eigenen Angaben der größte Verein seiner Art in ganz Deutschland. Beide Vereine freuen sich über den regen Zulauf, sind stolz darauf, dass sie nicht unter Mitgliederschwund wie manche anderen Vereine leiden. Doch woran liegt das?
Thomas Elbert ist Professor für klinische Psychologie an der Universität Konstanz und hat sich mit der Frage beschäftigt, was die Faszination des Schießens ausmacht - egal ob mit Gewehr, Pistole oder Pfeil und Bogen. Im Gespräch mit dem GEA macht er das an verschiedenen Grundbedürfnisse des Menschen fest. Zu den zentralen Bedürfnissen gehören demnach: Essen und Trinken, Sex und das Jagen. Dies gelte seit Urzeiten und das Jagen sei ein ganz spezielles Grundbedürfnis. »Menschen beschäftigen sich gerne mit Waffen, dem Kampf, ihrer Selbstverteidigung und sie haben schlicht Spaß an der Jagd.« Das mit dem Spaß am Jagen lasse sich sogar auf den modernen Mannschaftssport ausdehnen: »Jagen in der Gruppe ist für viele Menschen der größte Spaß. Deshalb lieben wir Fußball, Handball, Basketball oder Eishockey. In der Gruppe jagen erwachsene Menschen einem Ball oder einem kleinen Puck hinterher. Irgendwie schon verrückt. Der Jagderfolg ist dann eingetreten, wenn der Ball oder der Puck ins Ziel geschossen oder geworfen wird. Das alles verursacht ganz viele positive Gefühle.«

Doch das Grundbedürfnis des Jagens unterliege in unterschiedlichen Zeiten auch verschiedenen moralischen Schranken. Er nennt ein Beispiel: »Noch vor nicht allzu langer Zeit, war Jagen, oder die Beschäftigung mit Waffen nicht besonders angesagt und galt bei vielen sogar als verpönt. Das hat sich gewandelt«, so Thomas Elbert. Das verdeutlicht er anhand einer aktuellen Aussage von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius, die eine Art Zeitenwende verdeutlicht habe: »Pistorius hat gesagt, die Bundeswehr müsse kriegstüchtig gemacht werden. Dafür erhält er seither enorme Zustimmungswerte.« Er sei mit Abstand der beliebteste Politiker in Deutschland. Das habe den Blick auf Waffen, Selbstverteidigung, Kampf oder die Jagd verändert und die moralischen Schranken gesenkt. Das alles sei nicht mehr verpönt.
Jagen gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen
Gleichzeitig unterlägen die Jagd und auch die Schützenvereine den jeweiligen Mode-Erscheinungen der Zeit. »Jagen ist heutzutage in. Auf einmal wollen alle einen Jagdschein machen, selbst wenn sie unter Umständen später überhaupt nicht auf die Jagd gehen«, so Elbert.
Den Zulauf zu den Schützenvereinen erklärt der Psychologie-Professor dann aber auch ganz simpel: »Schießen macht schlicht eine Menge Spaß.« Sich zudem in der Gruppe zu messen und sich körperlich zu betätigen, werde als positiv wahrgenommen: »Die soziale Seite eines Vereins sollte nie unterschätzt werden. Hier erlebt man ein Gemeinschaftsgefühl und es werden Freundschaften geschlossen.«
Dass Schießen Spaß macht und im Verein sogar noch mehr, das findet auch Professor Jochen Strähle. Der Dozent für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Reutlingen ist gleichzeitig Jugendleiter der Schützengilde Reutlingen 1290. Die Gemeinschaft im Verein, die Freude am Wettstreit untereinander, diese Aspekte sieht auch Strähle als Gründe, weshalb die Mitgliederzahlen in »seiner« Schützengilde steigen. Doch ihm ist in seinem Verein noch etwas anderes aufgefallen: »Schießen hat etwas ziemlich Meditatives in sich. Schützen sind beim Akt des Schießens auf sich selbst reduziert, müssen sich konzentrieren, die Umwelt und andere ausblenden, wenn sie richtig treffen wollen.« Große Hochachtung habe er deshalb vor der Leistung der Biathleten, die mit einem Puls von 130 und mehr in den Schießstand liefen und dann binnen kürzester Zeit runterkommen müssten, um das Ziel zu treffen. Das zudem in Wirklichkeit sehr viel kleiner sei, als es im Fernsehen den Anschein habe. Es sei ein Trend zu erkennen, dass mehr Menschen sich diese konzentrierte Besinnung auf sich selbst und die eigenen Fähigkeiten wünschten und das Meditative im Schießsport fänden. »Im Grunde ist Schießsport eine ziemlich auf sich selbst fokussierte Sportart«, so Strähle.
Waffennarren, die sich durch die eigene Pistole oder das Gewehr sicherer oder sogar mächtiger fühlen wollten, seien die Sportschützen auf keinen Fall, betont Strähle. »Unsere Waffen sind reine Sportgeräte und unsere Schießkurse sind nicht ausgebucht, weil die Leute etwas für ihre Selbstverteidigung tun wollen. Dafür gehen Menschen wohl eher in Karate-Schulen«, meint der Jugendleiter der Reutlinger Schützengilde, übrigens der älteste Schützenverein in Baden-Württemberg. Zudem seien die Hürden, bis jemand überhaupt legal eine Waffe sein Eigen nennen dürfe, in Deutschland enorm hoch.

Clemens Grebner leitet die Abteilung Feldbogenschützen des Polizeisportvereins Reutlingen (PSV). Er ist überzeugt, dass es viel mit Spieltrieb zu tun hat, dass vor allem Männer den Weg zum Bogensport finden. »Das Kind im Manne spielt dabei bestimmt eine Rolle«, meint er. Deshalb seien 80 Prozent der Bogenschützen im PSV Männer. Er vergleicht das Bogenschießen mit dem Golfsport: »Wir Feldbogenschützen sind ja draußen in der Natur unterwegs. Wir haben unseren Parkour und keinen Schießstand.« Auch er führt die Geselligkeit im Verein als Grund an, die seine Vereinsmitglieder motivieren würden, mitzumachen. Gleichzeitig aber auch die Konzentration auf sich selbst, wenn es darum gehe, mit Pfeil und Bogen auf dem Reutlinger Parkour das Ziel zu treffen. Das habe schon etwas von der Jagd und der Wettbewerb in der Gruppe sei durchaus vorhanden. Dass jemand zu den Bogenschützen gehen würde, um sein subjektives Sicherheitsgefühl zu verbessern, glaubt er nicht. »Deshalb gehen die Leute nicht zu den Bogenschützen.«
Mehr Männer als Frauen bei den Bogenschützen
Sein Vereinskollege Jörg Jungbluth betreut die Sportbogenschützen im PSV. Sie schießen im Gegensatz zu den Feldbogenschützen nicht in einem Parkour im Wald oder Lichtungen auf lebensgroße Kunststofftiere oder Plastik-Dinos, sondern agieren an einem Schießstand. Er sieht Bogenschießen als Familiensport, zu dem Kinder und Jugendliche nicht selten finden würden, weil sie Geschichten wie Robin Hood, Herr der Ringe oder Tribute von Panem konsumiert hätten. Da würden sie Vorbilder finden. Ein weiterer Grund für ihn, warum Menschen zu ihm kämen: »Bei den Erwachsenen steigt gerade die Nachfrage nach einer Sportmöglichkeit, die gleichermaßen Körper und Geist beansprucht, also Entspannung durch Anspannung im Schulter- und Nackenbereich und Abschalten vom Büro-Alltag durch Konzentration auf das Bogenschießen.«
Alle, die der GEA befragt hat sind sich einig: Schießen ist nicht nur ein großer Spaß, sondern gehört zur Wesen des Menschen und kann positive Wirkungen auf Körper und Geist haben. Menschen, die im Verein schießen würden, seien keine potenziell gefährlichen Waffennarren, die ihre Allmachtsphantasien durch den Besitz einer Waffe befriedigen müssten. Das Gegenteil sei der Fall. (GEA)