REUTLINGEN-REICHENECK. Oh nein, eine Hauruck-Entscheidung war es wahrlich keine: Als der ehemalige Reichenecker Bezirksbürgermeister Willi Igel und seine Frau Eva Kuhn den Entschluss fassten, ihr Eigenheim mit Dritten zu teilen, hatten sie zuvor alle denkbaren Vor- und Nachteile abgewogen. Tun oder lassen? Eine schwierige Frage, wenn es darum geht, sich im Alter räumlich zu verkleinern und nicht bloß Gewohnheiten, sondern mit ihnen auch Mobiliar und Krimskrams über Bord zu werfen; Erinnerungsstücke, Teile eines gelebten Familienlebens.
Leben auf der Baustelle
»Davor, also vor dem Aussortieren, hat es mich am meisten gegraust«, verrät Eva Kuhn. Wiewohl sich rückblickend zeigt, dass dieses »Misten« gemessen an notwendigen Um- und Ausbauarbeiten eher ein Klacks gewesen ist. Zumal Handwerker rund sechs Monate lang damit beschäftigt waren, das alte Bauern- in ein Dreiparteienhaus umzuwandeln. Was für Igel und Kuhn, die übrigens selbst Hand anlegten und aus Zeit- sowie Kostengründen möglichst viel in Eigenleistung stemmten, mit erheblichen Unbequemlichkeiten verbunden war. Sie nämlich lebten während der, so Willi Igel, »Kernsanierung im Bestand« auf einer Baustelle: Dreck und Lärm inklusive.
Von derlei Zumutungen ist heute nichts mehr wahrzunehmen. Die Reichenecker Hauseigentümer haben es sich im Parterre ihrer Immobilie hübsch gemacht. Was sie mit Familie Haas/Kästner eint, die sich seit 15. Februar im ersten Stock eingerichtet hat, über dem – direkt unterm Dach – zudem zwei junge Frauen wohnen, ohne dass irgendjemand beengte Platzverhältnisse beklagen müsste.
Plötzlich überdimensioniert
»Ursprünglich standen uns 250 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung«, sagt Willi Igel. Und ursprünglich war das auch gut so – damals, als das Ehepaar seine drei Kinder großzog. Doch mit Flüggewerden des Nachwuchses erschien die Immobilie in Reichenecks Alter Dorfstraße plötzlich überdimensioniert. Spätestens 2010 kam deshalb die Idee zu baulicher Veränderung und Vermietung auf. Wiewohl sich Eva Kuhn bereits deutlich früher mit dieser Thematik auseinandergesetzt hatte.
Als Geografie-Lehrerin war ihr dank einschlägiger Fachlektüre schon drei Dekaden zuvor klar gewesen, dass »die Erde von den Menschen überbeansprucht und eine rasant wachsende Weltbevölkerung Konsequenzen nach sich ziehen wird« – in puncto Ernährung, Verkehr und Wohnen. »Für mich war es offensichtlich, dass es über kurz oder lang zu baulicher Verdichtung kommt, dass Wohnraum knapp wird.« Kuhn sollte mit dieser Prognose recht behalten: eingedenk der derzeit höchst angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt.
Von dieser können Petra Haas und ihr Mann Henning Kästner mit ihren drei Kids mehr als nur ein Liedchen anstimmen. Über Jahre hat die Familie nach einer neuen Bleibe gesucht. Über Jahre erfolglos. Entweder war der Mietzins absurd hoch oder Kinder waren unerwünscht. Und manchmal waren Wohnungen derart ungünstig geschnitten, dass sie den Bedürfnissen einer fünfköpfigen Familie entgegenstanden.
»Wir wollten«, erklärt Petra Haas, »dass jedes unserer Kinder ein eigenes Zimmer hat.« Und: Die Familie wollte, wenn irgendwie möglich, in Reicheneck bleiben. »Hier ist es für uns optimal«, betont die Mutter, die große Stücke auf die Lebensqualität im beschaulichen Bullerbü des Reutlinger Nordraums hält.
Dass Petra Haas und ihre Lieben eines Tages mit Eva Kuhn und Willi Igel unter einem Dach leben würden – noch vor einem starken Jahr hätte die Mutter das kaum für möglich gehalten. Auch, weil sie zunächst skeptisch war. Doch je öfter und detaillierter alle Beteiligten über das Für und Wider einer künftigen Hausgemeinschaft diskutierten, desto mehr drängten sich die Pro-Argumente in den Vordergrund.
Lupenreine Win-win-Situation
Heute sprechen Vermieter und Mieter einmütig von einer »lupenreinen Win-win-Situation« und davon, die »richtige Entscheidung« getroffen zu haben. Zumal ihnen das Kunststück gelungen ist, ihr gemeinsam-getrenntes Wohnen maßgeschneidert zu gestalten.
Um dies zu erreichen, mussten zwar stärkere architektonische Eingriffe vorgenommen werden, als Willi Igel und Eva Kuhn sich das zunächst gedacht hatten. Jedoch: Letztlich ist’s das positive Ergebnis, das zählt. Umso mehr, als sich Familie Haas/Kästner sogar finanziell am Projekt beteiligt und das eine oder andere Extra aus eigener Tasche bezahlt hat.
Gesteigertes Wohlgefühl
Unterm Strich, erklären Igel und Kuhn, habe ihre Immobilie dank der getätigten Investitionen eine Wertsteigerung erfahren. Gesteigert habe sich außerdem das Wohlgefühl. »Es ist schön wieder mehr Leben im Haus zu haben«, sind sich er und seine Frau einig. Gestört fühlen sie sich jedenfalls nicht. Schon gar nicht von den drei Kindern, die für manch’ Außenstehenden im Vorfeld des Haus-Umbaus fast schon einem Ausschlusskriterium gleichgekommen waren.
Ob sich Willi Igel und Eva Kuhn wirklich sicher seien, an eine fünfköpfige Familie vermieten zu wollen, ob sie die damit verbundenen Umtriebe nicht scheuen würden, wollten die Leute wissen. Nun, die Hausbesitzer scheuten nichts und fühlen sich jetzt aus mehreren Gründen als Gewinner: weil sie inzwischen auf hundert Quadratmetern barrierefrei leben, weil sie unter sozialpolitischen Aspekten – Stichwort: Wohnraummangel – das Richtige getan zu haben meinen und nicht länger das »latent schlechte Gewissen« mit sich rumschleppen müssen, »sooo viel Platz zu beanspruchen«.
Hinzu kommt der Faktor Geselligkeit. Denn den Garten teilen sich die Parteien. Er ist so etwas wie ein grüner Gemeinschaftsraum – für den kleinen Plausch zwischendurch oder für gelegentliche gemeinsame Mahlzeiten. Die Kids dürfen hier nach Herzenslust toben, die Erwachsenen entspannen. Und Konflikte? Kamen bislang keine vor. Was nicht zuletzt daran liegen mag, dass sich Vermieter und Mieter vor dem Zusammenrücken ausgiebig kennengelernt hatten.
»Jeden X-Beliebigen hätten wir hier ganz gewiss nicht einziehen lassen«, stellt Willi Igel klar. Für ihn war es mithin ausschlaggebend, dass er Familie Haas/Kästner bereits etwas kannte und im Zuge intensiver Gespräche immer besser kennenlernte. Das gab eine gewisse Sicherheit. Das schaffte Vertrauen und ein, so Igel, »gutes Grundgefühl«. Weshalb er jedem potenziellen Vermieter nur empfehlen kann, diesen Weg einzuschlagen und in Gesprächen zu prüfen, ob’s »grundsätzlich passt«.
Keine Garantien
Dessen ungeachtet gibt es natürlich trotzdem keine Garantien für ein gelingendes Miteinander; und Meinungsverschiedenheiten lassen sich auch nicht zu hundert Prozent ausschließen – weil’s zuweilen halt einfach bloß menschelt.
Im Endeffekt freilich sind in der Hausgemeinschaft an Reichenecks Alter Dorfstraße alle mit dem Status quo zufrieden und der einhelligen Meinung, dass ihr Wohnmodell Nachahmer finden sollte. (GEA)