REUTLINGEN. Eine chinesische Weisheit von Konfuzius besagt: »Wer das Werk kopiert, ehrt den Meister«. Jahrtausende später betreibt das totalitäre, kommunistische China rücksichtslos Spionage. Denn wo Wissen Macht ist, scheint jedes Mittel auf dem Weg zur angestrebten Weltherrschaft recht. So wie die Spannungen zwischen Peking und dem Westen wachsen, tun sie das seit dem russischen Überfall auf die Ukraine umso mehr im Verhältnis zu Russland. Davon betroffen sind auch Forschung und Lehre. Manche Universitäten in Deutschland haben bereits vom chinesischen Staat entsandte Doktoranden ausgeschlossen. Für wie hoch wird das Risiko zum Opfer staatlicher Spionage aus totalitären oder autokratischen Systemen zu werden bei einer so sehr auf Internationalität und Austausch ausgelegten Institution wie der Hochschule Reutlingen eingeschätzt?
Der Besuch bei Professor Baldur Veit, Direktor des Reutlingen International Office (RIO) an der Hochschule, kommt exakt zum richtigen Zeitpunkt. Vor wenigen Tagen ist Veit von einer Veranstaltung des Stuttgarter Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst zurückgekehrt, dessen Titel hübsch diplomatisch den Ernst der Lage verpackt: »Informations- und Vernetzungsveranstaltung für die staatlichen Hochschulen Baden-Württembergs zur Stärkung der Handlungskompetenz in der wissenschaftlichen Kooperation mit der Volksrepublik China«.
»Wir schauen genau, ob Zugang zu wichtigen Erkenntnissen besteht«
Gesprochen wurde in der Landeshauptstadt über Themen wie exportkontrollrechtliche Prüfungen und Dual Use – sprich sowohl für militärische als auch zivile Nutzung geeignete Waren und Güter – sowie über »Prüfungsansätze« für Hochschulkooperationen. In Workshops ging es etwa darum, welche Informationen weitergegeben werden sollen. Das sind genau jene Herausforderungen, mit denen sich das RIO mit den drei Arbeitsbereichen Auslandsamt (AAA), Institut für Fremdsprachen (IfF) und International Programmes (IP) als eine zentrale Einrichtung der Hochschule und als Ansprechpartner bezüglich des gesamten internationalen Angebots für deutsche und internationale Studierende, Lehrende sowie für Gäste der Hochschule auseinandersetzen muss. Denn auf dem Campus sind viele ausländische Studenten unterwegs – auch Chinesen.
Von den rund 5.000 Studentinnen und Studenten der Hochschule Reutlingen sind laut Professor Veit »fast 20 Prozent nicht deutscher Nationalität«. Dabei handelt es sich zunächst mal um Austauschstudenten, die ein oder zwei Semester mit Blick auf die Achalm lernen. Dazu kommen sogenannte »Degree-Students«, die einen Reutlinger Abschluss machen. »Früher war die größte Gruppe aus Frankreich«, beschreibt der RIO-Direktor die Herkunft der Gäste aus aller Herren Länder, »jetzt sind es etwa gleich viele Franzosen, US-Amerikaner und Spanier«. Junge Menschen aus Lateinamerika seien »stark im Kommen«. Das Hochschulgelände im Hohbuch ist dabei keine Insel, sondern bekommt die Auswirkungen einer veränderten Weltlage direkt mit. Erst sorgte die Corona-Pandemie für einen »dramatischen Einbruch«. Ebenso hat der Beginn des russischen Angriffskrieges vor über einem Jahr bis in die Gegenwart hinein spürbare Folgen.
»Kein chinesischer Staatsstipendiat ist in Reutlingen«
»Wir waren eine der ersten Hochschulen, die sofort Stipendien und Unterkünfte für Ukrainer organisiert haben«, erzählt der RIO-Direktor. Aktuell studierten 20 Menschen aus dem überfallenen Land in Reutlingen. »Wir hatten immer sehr gute Kontakte nach Russland, vor allem nach Moskau und St. Petersburg«, fährt Veit fort, »bei Kriegsausbruch waren vier Studierende aus Russland hier. Seit dem Sommersemester 2022 haben wir keine Studenten aus Russland aufgenommen. Die Partnerschaften sind eingefroren«. Konflikte zwischen russischen und ukrainischen Studenten habe es keine gegeben. Und was ist mit den Chinesen?
Mit der Null-Covid-Politik der chinesischen Staatsführung und der damit verbundenen Abschottung des Landes habe es keinerlei Austausch während der Pandemie gegeben. »Erst jetzt zum Wintersemester sind die ersten Gruppen wieder gekommen«. Zusammengezählt befinden sich auf dem Campus zurzeit 50 Chinesen. »Kein einziger Student ist vom China Scholarship Council«, betont Veit. Eine wesentliche Feststellung, denn dieser Chinese Scholarship Council (CSC) ist das chinesische Gegenstück zum Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Beide Organisationen vergeben Stipendien an den wissenschaftlichen Nachwuchs. Das CSC untersteht dem Pekinger Bildungsministerium, unterliegt damit der Kontrolle der kommunistischen Partei. Vom CSC als Staatsstipendiaten entsandte Doktoranden hat die Universität Erlangen-Nürnberg im Juli dieses Jahres ausgeschlossen. Die Frage nach dem Umgang mit anderen Studierenden aus dem Reich der Mitte beantwortet Veit sehr differenziert.
Spionage in Wissenschaft und Forschung
Wie ernst das Thema Spionage in Wissenschaft und Forschung vom deutschen Staat genommen wird, zeigt ein Informationsblatt des Bundesamtes für Verfassungsschutz. China wird besonders erwähnt. »China will bis 2049 wirtschaftlich, wissenschaftlich und militärisch global führend sein. Gleichzeitig wird eine zunehmende wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Ausland angestrebt. China benötigt dafür auch umfangreiches westliches Know-how. Zur Informationsbeschaffung werden sowohl legale Mittel als auch illegale Mittel eingesetzt. Langfristig angelegte Strategien und Programme unterstützen die Zielerreichung, unter anderen werden Wirtschaft, akademische Institutionen und Militär zunehmend stark verflochten (Seven Sons auf national Defense). Bei den ,Sieben Söhnen' handelt es sich um Universitäten, die dem Militär in Forschung und Lehre besonders nahestehen. Aber auch für andere Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen lassen sich Verbindungen zum Militärsektor nachweisen. Die Datenbank China Defence Universities Tracker ( https://unitracker.aspi.org.au) unterstützt eine Risiko-Einschätzung möglicher wissenschaftlicher Kooperationen. Internationale Forschungskooperationen und wissenschaftliche Auslandsaufenthalte werden (von China) gezielt gefördert, um spezielles Wissen ins Land zu holen. Insbesondere spielen Forschungsergebnisse eine wichtige Rolle, die sich auch für Dual-Use Güter nutzen lassen (zum Beispiel Materialforschung). Dual-Use Güter sind Waren und Produkte, die sowohl für zivile Anwendungen als auch für militärische Zwecke geeignet sind.« Das Informationsblatt gibt es im Bereich Service, Publikationen beim Verfassungsschutz im Internet. (pr)
www.verfassungsschutz.de
Bei allen Austauschstudenten würden sprachliche und fachliche Voraussetzungen geprüft, »die Nominierung erfolgt durch die Partnerhochschulen«. Daher prüften die Reutlinger ganz allgemein sorgfältig, mit wem da eine Partnerschaft eingegangen wird. Das gelte global und auch für China. Bei niemandem gehe es um ein Führungszeugnis oder politische Einstellungen. Das sei bei Bachelor- und Master-Studenten auch zu keiner Zeit und nirgendwo üblich. »Die Gefahr chinesischer Staatsspionage ist für die Hochschule Reutlingen relativ gering, weil wir bei normalen Austauschstudenten auf einem Level arbeiten, der öffentlich ist«, betont Veit.
Anders stelle sich die Lage dagegen bei Abschlussarbeiten oder Promotionen (Doktorarbeiten) dar. »Wir schauen genau, welche Themen das sind, und ob der Zugang zu wichtigen Erkenntnissen besteht«. Dabei sei »in den letzten zwei Jahren«, in Richtung China eine »besondere Aufmerksamkeit gewachsen«. Es komme auch auf die Fächer an, in denen diese wissenschaftlichen Abhandlungen entstehen sollen.
»Immer mindestens eine Person dabei, die der Partei nahesteht«
Alles, was mit künstlicher Intelligenz (KI) zusammenhänge, sei »besonders heikel«. Also die Naturwissenschaften, Informatik oder Ingenieursstudiengänge. Weil Abschlussarbeiten oft in Verbindung mit Unternehmen entstehen, teilweise sogar verbunden mit Aufenthalten auf dem Betriebsgelände, erhöht sich das Problembewusstsein auch dort. Wirklich etwas passiert ist laut Veit aber bislang nicht.
»Ich kenne keinen echten Spionagefall an der Hochschule«, versichert der Professor. Nach längerem Nachdenken meint er, »dass es ab und zu Rückmeldungen von Firmen gibt, wenn sich ein Praktikant oder Studenten mit Abschlussarbeiten nicht korrekt verhalten«. Gemeint seien dabei aber Kleinigkeiten, wie der heftige Gebrauch des Smartphones zur Herstellung unvergesslicher Erinnerungsbilder, was bei Asiaten noch normaler als hierzulande ist. »Selten, ganz selten« sehe sich das Reutlingen International Office genötigt, »der Sache nachzugehen«. Aufgefallen sind Baldur Veit jedoch Sachen, die ihn nachdenklich machen.
»Auslandsbeziehungen sind nach wie vor wichtig. Wir leben in einer Welt«
»Wir bemerken bei Gruppen aus China, dass immer mindestens eine Person dabei ist, die der Partei nahesteht«, berichtet er. Solche Auffälligkeiten würden nicht hingenommen, »wir machen dann der gesamten Gruppe klar, dass bei uns jeder gleich ist«. Noch nicht aufgetaucht, beziehungsweise ihm nicht für die Hochschule Reutlingen bekannt, seien »Knebelverträge« zwischen dem chinesischen Staat und Studenten. Nach Recherchen von »Correktiv« und »Deutscher Welle« gibt es solche Vereinbarungen jedoch. Staatstreue und Gehorsam würden für chinesische Studenten auch dann gelten, wenn sie in Deutschland leben und arbeiten. Sie müssten sich zu einem loyalen Verhalten gegenüber dem kommunistischen Staat verpflichten, sonst drohten empfindliche Strafen.
Was bleibt mit Blick auf eine Welt, die immer mehr Gefahr läuft, in Blöcke zu zerfallen? »Auslandsbeziehungen sind nach wie vor wichtig. Wir leben in einer Welt. Nicht zu sprechen, ist problematisch«, betont Veit. Es sei immer besser, Kontakt zu haben. Das Wissenschaftsministerium in Stuttgart wünsche auch ausdrücklich »eine Weiterführung unserer bewährten Kooperation mit China«. Mehr als bislang gilt dabei aber offenbar auf dem Reutlinger Campus Vorsicht als Mutter der wissenschaftlichen Porzellankiste. (GEA) www.reutlingen-university.de