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Wie sich Armut in Reutlingen anfühlt

Wie lebt es sich mit wenig Geld? Eine alleinerziehende Mutter aus Reutlingen mit vier Kindern erzählt von großen Sorgen und kleinen Freuden.

Leben in der Hochhaus-Siedlung: In Deutschland ist jedes fünfte Kind arm.
Leben in der Hochhaus-Siedlung: In Deutschland ist jedes fünfte Kind arm. Foto: Rolf Vennenbernd
Leben in der Hochhaus-Siedlung: In Deutschland ist jedes fünfte Kind arm.
Foto: Rolf Vennenbernd

REUTLINGEN/STUTTGART. »Wir haben einen Computer für fünf Leute«, sagt Irene Walter (Name geändert). »Wenn alle gleichzeitig dran müssen, dann gibt es Streit.« Die alleinerziehende Mutter lebt mit ihren vier Kindern in Reutlingen. Das Geld ist knapp. Keiner hungert, aber Kleidung ist schwierig und Urlaub unmöglich. Familie Walter überlebt, aber sie lebt nicht gut. Arm im reichen Land: Das ist eine Belastung – finanziell, organisatorisch und psychisch. Der Staat hilft, Sozialverbände helfen. Trotzdem reicht es nicht. Die Kindergrundsicherung soll das ändern. Aber Betroffene wie Familie Walter sind skeptisch.

»Meine Tochter wollte immer Ballett tanzen. Aber ich konnte mir den Unterricht nie leisten«, erzählt Walter. »Das tut weh.« Stattdessen gab es Taekwondo-Training für alle. Bis nach drei Jahren die Aktion Sterntaler von Caritas und Diakonie nicht mehr zahlte. »Jetzt machen sie nichts.« Bei Walters geht es nicht ums Überleben, aber ums Teilhaben – und ums Nicht-Auffallen. Handys sind da ein Problem. »Jedes meiner Kinder hat sein eigenes Handy«, berichtet Walter. »Aber ein gebrauchtes.« Nicht das neue iPhone 15, auch nicht das neue Galaxy S23 – so was merken Schulkameraden. Genauso wie abgetragene Kleider. »Es müssen keine Markenklamotten sein«, beschreibt Walter die Wünsche ihrer Kinder. »Aber sie müssen modern aussehen.«

»Wir haben einen Computer für fünf Leute. Wenn alle gleichzeitig dran müssen, dann gibt es Streit. - Irene Walter, alleinerziehende Mutter von vier Kindern aus Reutlingen«

Nicht immer leicht für die Mutter. Ihre Familie gilt als »armutsgefährdet«. Diese Kategorie erfasst relative Armut in westlichen Industrieländern. Anders als bei absoluter Armut in südlichen Entwicklungsländern steht nicht die physische Existenz auf dem Spiel, sondern die soziale Teilhabe. Negative Auswirkungen gibt es auch auf Bildung und Gesundheit. Oft »vererbt« sich Armut auf die nächste Generation. Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung hat. Die Schwelle lag in Deutschland letztes Jahr laut Statistischem Bundesamt für Alleinstehende bei 1.250 Euro netto pro Monat, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2.625 Euro. Betroffen sind 2,2 Millionen der insgesamt 14,3 Millionen Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren.

In die Armut gerutscht ist Walter mit der Trennung von ihrem Mann. Die Kinder waren klein, die Mutter konnte nicht arbeiten. Inzwischen ist das anders: Die Jüngste zählt 12 Jahre, der Älteste 20 Jahre. »Ich könnte einen Minijob machen«, überlegt Walter. Die 520 Euro Lohn würden mit dem Bürgergeld verrechnet, übrig blieben 150 Euro zusätzlich. Zu wenig für Walter. »Am Ende hätte ich kaum mehr Geld, aber viel mehr Stress.« Dazu kommen die Schulden. Voraus gingen Streitigkeiten um Unterhalt und Unterhaltsvorschuss: Der Vater will kein Geld zahlen, der Staat will sein Geld zurück. Walter setzt das zusätzlich unter Druck: »Zur finanziellen Not kommen bürokratische Schwierigkeiten.«

»Das Geld kommt nicht da an, wo es gebraucht wird«, sagt Paula Wenning. Sie ist Fachreferentin für Soziale Sicherung beim Kinder
»Das Geld kommt nicht da an, wo es gebraucht wird«, sagt Paula Wenning. Sie ist Fachreferentin für Soziale Sicherung beim Kinderschutzbund. Foto: Kinderschutzbund
»Das Geld kommt nicht da an, wo es gebraucht wird«, sagt Paula Wenning. Sie ist Fachreferentin für Soziale Sicherung beim Kinderschutzbund.
Foto: Kinderschutzbund

Mit derlei Sorgen steht Walter nicht allein da. Als alleinerziehende Mutter mit vier Kindern gehört sie gleich zu mehreren Risikogruppen. Insgesamt beträgt die Armutsgefährdung in Baden-Württemberg laut Statistischem Landesamt 15,8 Prozent. Bei unter 18-Jährigen dagegen liegt die Quote bei 19,7 Prozent, bei Paaren mit drei und mehr Kindern bei 33,4 Prozent und bei Alleinerziehenden mit einem Kind bei 36,2 Prozent. Das katapultiert Familie Walter an die Spitze.

Noch stärker gefährdet ist nur eine Gruppe: Menschen mit Migrationshintergrund. Während deutsche Jugendliche in Baden-Württemberg ein Armutsrisiko von 10,4 Prozent haben, haben Jugendliche, die nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren sind, ein Armutsrisiko von 47,2 Prozent. Besonders hoch ist der Anteil mit 82,2 Prozent bei ukrainischen Jugendlichen und mit 71,2 Prozent bei syrischen Jugendlichen. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) sprach hier von »importierter Kinderarmut«.

»Ich könnte einen Minijob machen. Am Ende hätte ich kaum mehr Geld, aber viel mehr Stress. - Irene Walter, alleinerziehende Mutter von vier Kindern aus Reutlingen«

In solchen Fällen springt der Staat ein. Familie Walter zum Beispiel bekommt Bürgergeld: die Mutter 502 Euro pro Monat, die Kinder je nach Alter zwischen 438 und 318 Euro. Dazu kommen jeweils 250 Euro Kindergeld und Unterhaltsvorschuss. Beides wird mit dem Bürgergeld verrechnet – mit dürftigem Ergebnis: »Dadurch habe ich nicht mehr Geld, nur mehr Arbeit«, schimpft Walter. Nämlich mit Formularen. »Die Anträge stellen ist nicht schwer«, räumt sie ein. »Die Bescheide verstehen aber.« Denn die Behörden würden nicht erklären, warum sie diesen Geldbetrag erhält und nicht jenen.

Die Verwirrung ist weit verbreitet. »Es gibt eine Vielzahl staatlicher Leistungen für Kinder«, sagt Paula Wenning. Als Fachreferentin für Soziale Sicherung beim Kinderschutzbund kann sie die wichtigsten Töpfe aufzählen: Neben den genannten Hilfen gibt es Kinderzuschlag, Bildung und Teilhabe, Wohngeld, Sozialhilfe und Asylbewerberleistung. »Das ist ein Dschungel«, kritisiert Wenning. Die einzelnen Leistungen seien miteinander verknüpft. Teils bedingten sie einander, teils schlössen sie einander aus. Die einen würden vom Bund, die anderen von den Ländern, die dritten von den Kommunen erbracht. Darum müssten Anträge bei verschiedenen Behörden gestellt und zu verschiedenen Zeiten erneuert werden. Die Folge: »Der Durchschnittsbürger weiß oft nicht, auf welche Unterstützung er Anspruch hat und wie er seinen Anspruch durchsetzen kann«, berichtet Wenning. »Das Geld kommt nicht da an, wo es gebraucht wird.«

»Kinder haben Armut nicht gewählt«, sagt Ursula Schlüter. Sie leitet den Kinderschutzbund in Reutlingen.
»Kinder haben Armut nicht gewählt«, sagt Ursula Schlüter. Sie leitet den Kinderschutzbund in Reutlingen. Foto: Privat
»Kinder haben Armut nicht gewählt«, sagt Ursula Schlüter. Sie leitet den Kinderschutzbund in Reutlingen.
Foto: Privat

Das Problem ist bekannt beim Bundesfamilienministerium. Dort schätzt man, dass zum Beispiel der Kinderzuschlag nur für jedes dritte anspruchsberechtigte Kind abgerufen wird. Abhilfe schaffen soll die Kindergrundsicherung. Mit dem sozialpolitischen Prestigeprojekt will die Ampel-Regierung die verschiedenen staatlichen Leistungen für Kinder bündeln und die Antragstellung erleichtern. Zuständig sind künftig nur noch zwei Stellen: Familienkasse und Jobcenter. Außerdem können Anträge online gestellt werden. So sollen mehr Familien erreicht werden. Für das Startjahr 2025 ist ein Budget von 2,4 Milliarden Euro vorgesehen.

Sozialverbänden reicht das nicht. »Für die meisten Betroffenen – nämlich Kinder im Bürgergeld-Bezug – wird der bürokratische Aufwand größer«, kritisiert Wenning vom Kinderschutzbund. Darum fordert der gemeinnützige Verein, dass Leistungen nicht von Betroffenen gezielt beantragt werden müssen, sondern dass sie vom Staat automatisch ausgezahlt werden. »Aber leider fehlt der politische Wille zur Vereinfachung.« Das werde auch nicht besser durch die geplante Digitalisierung. »Online-Anträge sind nicht die Wunderwaffe im Armutsbereich«, warnt Wenning. Denn nicht jeder besitze einen Computer. Vielmehr befürchtet der Kinderschutzbund, dass Behörden wegen der Online-Anträge nicht mehr persönlich erreichbar sind. Für Wenning die schlechtere Option: »Viele Betroffene brauchen einen Sachbearbeiter, dem sie ihre individuelle Situation schildern können.«

Zusätzlich zu bürokratischer Vereinfachung fordern Sozialverbände finanzielle Verbesserung. Davon profitieren Wenning zufolge aber nur einzelne Gruppen wie Alleinerziehende, Aufstocker und bestimmte Jugendliche – und auch nur in geringem Umfang. Um verfestigte Armutsstrukturen aufzubrechen, brauche es aber einen großen Sprung. Trotzdem bleibt Wenning optimistisch: »Wir Sozialverbände hoffen auf Nachbesserungen.«

»Viele wissen nicht, auf welche Hilfe sie Anspruch haben und wie sie den Anspruch durchsetzen können. - Paula Wenning, Fachreferentin für Soziale Sicherung beim Kinderschutzbund«

Bis es so weit ist, sind Betroffene wie Familie Walter weiter auf Hilfsorganisationen wie den Kinderschutzbund angewiesen. Einer der 400 Ortsverbände sitzt in Reutlingen. Den Laden mit gespendeten Kleidern und Spielsachen nutzen Walters regelmäßig. Auch bei Ausflügen, etwa in den Freizeitpark Tripsdrill, sind sie dabei. 150 Familien pro Jahr betreuen die zwei hauptamtlichen und 90 ehrenamtlichen Mitarbeiter. Sie verschenken Winterschuhe und organisieren Weihnachtsfeiern, geben Nachhilfe und bezahlen Ferienfreizeiten. Bei Familien wie Walters kommt das gut an. Mutter Irene ist begeistert: »Der Kinderschutzbund leistet viel für Familien.« (GEA)