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Aktuell Jubiläum

Wie der Kreis Reutlingen vor 50 Jahren entstanden ist

Als 1973 der heutige Landkreis Reutlingen entsteht, ändert sich auf der Landkarte einiges. Im Wesentlichen werden die Altkreise Reutlingen und Münsingen zu einer großen Einheit zusammengelegt. Das geht keinesfalls ganz glatt über die politische Bühne. Was sich die Mütter und Väter des Kreisreformgesetzes damals ausgedacht haben, und wo es teils erbitterten Widerstand von Bürgern gegeben hat, erzählt Kreisarchivar Dr. Marco Birn

Blick auf den Landkreis Reutlingen vom Schloss Lichtenstein.  FOTOS: ZENKE
Blick auf den Landkreis Reutlingen vom Schloss Lichtenstein. FOTOS: ZENKE
Blick auf den Landkreis Reutlingen vom Schloss Lichtenstein. FOTOS: ZENKE

REUTLINGEN. »Ohne Vergangenheit kann man keine Zukunft haben«, soll Schriftsteller Michael Ende gesagt haben. In diesem Sinne ist die Bildung des heutigen Landkreises Reutlingen zukunftsweisend sowie im Gegensatz zu Endes Roman keine »Unendliche Geschichte« gewesen. Die Mütter und Väter der baden-württembergischen Kreisreform haben 1973 parteiübergreifend auf gesellschaftliche Veränderungen dadurch reagiert, dass sie auf der Landkarte Veränderungen vorgenommen haben. Aus den zwei Altkreisen Reutlingen und Münsingen wurde der neue heutige Landkreis Reutlingen.

Karte aus: Der Landkreis Reutlingen, hg. von der Landesarchivdirektion Baden-Württemberg in Verbindung mit dem Landkreis Reutlingen, Sigmaringen 1997.

50 Jahre später ist das auch vor dem Hintergrund der unsichtbaren Kreisgrenzen nichts mehr, über das groß nachgedacht wird. Damals ist das anders, auch weil es noch andere erheblich raumgreifendere Denkmodelle gegeben hat. Kreisarchivar Dr. Marco Birn kann dazu eine Menge erzählen, was, wer will, auch demnächst zwischen Buchdeckeln ausführlich nachlesen kann (»Identität – Funktion – Innovation. 50 Jahre Kreisreform Baden-Württemberg«, Verlag W. Kohlhammer).

Im Gespräch mit Birn und beim Gang in das Kreisarchiv wird deutlich, dass der Neuzuschnitt der Kreise durchaus umstritten gewesen ist. »Im damaligen Kreis Reutlingen standen die Bürger der Kreisreform deutlich offener gegenüber als im Kreis Münsingen«, sagt Birn. Dann beschreibt er die wesentlichen Zutaten der neuen Verwaltungseinheit: »Der heutige Landkreis entstand 1973 aus den größten Teilen der Landkreise Reutlingen und Münsingen – wobei der Erstgenannte lediglich Bronnen und Gomaringen an die Landkreise Sigmaringen und Tübingen abgab, und zehn Orte im Nordosten des Landkreises Münsingen an den Alb-Donau-Kreis fielen – sowie elf Gemeinden der Landkreise Tübingen, Saulgau, Sigmaringen und Nürtingen.« Es entsteht ein großer Kreis Reutlingen mit einer Fläche von 109 248 Quadratkilometern, aktuell 291 368 Einwohnern, 26 Städten und Gemeinden sowie den großen Kreisstädten Metzingen und Reutlingen, das 1973 zum Missfallen mancher Bürger und politischer Akteure zum Kreissitz wird.

Dr. Marco Birn, Leiter des Kreisarchivs Reutlingen, im Magazin voller Geschichte.
Dr. Marco Birn, Leiter des Kreisarchivs Reutlingen, im Magazin voller Geschichte. Foto: Stephan Zenke
Dr. Marco Birn, Leiter des Kreisarchivs Reutlingen, im Magazin voller Geschichte.
Foto: Stephan Zenke

Gegen die Auflösung des Landkreises Münsingen, schreibt Birn, »hatte sich zuvor heftiger Protest seitens des Kreistages Münsingen, des damaligen Landrats und späteren Reutlinger Oberbürgermeisters Dr. Manfred Oechsle sowie aus den Reihen einer Aktionsgemeinschaft geregt«. Im Reutlinger Albvorland wurde das Vorhaben dagegen überwiegend begrüßt. Besonders spannend ist, worum die »Interessengemeinschaft Zainingen-Donnstetten« in den 70er-Jahren kämpft.

»Die Reform kommt über uns wie eine asiatische Grippe«

»Das Modell der Landesregierung sah vor, dass nahezu alle Gemeinden, die östlich des Gutsbezirks Münsingen und der späteren Münsinger Eingemeindung lagen, an den Landkreis Ulm gelangen sollten«, schreibt Birn. Jedoch habe eine Vielzahl der Einwohnerinnen und Einwohner von Donnstetten und Zainingen starke Verbindungen nach Bad Urach gehabt. Zwischen den Dörfern kommt es zu Konflikten, wer wohin kommen möchte.

Nachdem in Donnstetten Bürgerbefragung, Gemeinderat sowie Bürgerversammlungen sich stets eindeutig für eine Zugehörigkeit zum Kreis Reutlingen ausgesprochen hatten, wendet sich der stellvertretende Bürgermeister Donnstettens an das Innenministerium und den Reutlinger Landrat Gerhard Müller. Der eigentliche Schultes wird, erinnert der Kreisarchivar, »komplett übergangen, da er sich für die Zuordnung zum Raum Laichingen und damit für den Ulmer Kreis ausgesprochen hatte«. Der Streit wird mit allen demokratischen Mitteln geführt. Letztlich hätten wohl die Argumente der »Interessengemeinschaft Zainingen-Donnstetten« schwerer gewogen, denn der Sonderausschuss zur Verwaltungsreform ordnete die Gemeinden Zainingen und Donnstetten dem Landkreis Reutlingen zu. Die bis heute existierende Verwaltungsgemeinschaft »Römerstein« wird noch vor Inkrafttreten des Kreisreformgesetzes gebildet.

Leidenschaftlich kämpft auch der Münsinger Landrat gegen die Zusammenlegung mit den Reutlingern. »Eine Reform braucht man heute offenbar nicht mehr zu begründen. Sie kommt eben über uns wie die asiatische Grippe«, wird Oechsle zitiert.

BUCH ZUR KREISREFORM

Unter dem Titel »Identität – Funktion – Innovation. 50 Jahre Kreisreform Baden-Württemberg« erscheint Ende Juni 2023 im W.-Kohlhammer-Verlag ein 450 Seiten dickes Buch zur Kreisreform (ISBN/EAN: 9783170431560). Im Klappentext heißt es: »So viele emotionale Diskussionen zum Thema Landkreise wie zwischen 1969 und 1973 hat es in Baden-Württemberg weder vorher noch nachher gegeben. Zu dem vorliegenden Jubiläumsband haben alle Landkreise bunte und charakteristische Mosaikbeiträge zum Reformgeschehen beigetragen. Überblicksartikel ordnen die Kreisgebietsreform historisch und erinnerungspolitisch ein. Feuilletonistische Beiträge veranschaulichen die Rolle der durch Gebietsreform und nachfolgende Verwaltungsreformen gestärkten Landkreise.« Die Väter des Buches sind: Professor Dr. Wolfgang Sannwald als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Kreisarchive beim Landkreistag Baden-Württemberg und Honorarprofessor der Universität Tübingen, Clemens Joos, Leiter des Kreisarchivs Schwarzwald-Baar-Kreis, sowie Manfred Waßner als Leiter des Kreisarchivs Esslingen. (GEA) www.kohlhammer.de

Die Bürgerschaft bildet eine »Aktionsgemeinschaft zur Erhaltung des Landkreises Münsingen«. Im Mai 1970 verteilt sie eine Postwurfsendung an alle Haushalte mit aufschlussreichem Inhalt: »Lebendiger Kreis – oder toter Raum? Ein Wort zur Kreisreform: Deswegen ist es für unseren Heimatkreis Münsingen, seine Bevölkerung, seinen Lebens-, Wirtschafts- und Kulturraum besser, wenn er seine eigenen Angelegenheiten in den eigenen Händen behält! Unsere Selbstverwaltung und Selbstbestimmung garantieren eine weitere gute Entwicklung – nicht die Zerschlagung des Kreises und seine Aufteilung nach Reutlingen (größter Teil), Ulm (Laichinger Bezirk) und Sigmaringen (Zwiefalter Bezirk).«

Unterdessen verhandelt die große Koalition aus CDU und SPD in Stuttgart einen Kompromiss. Im September 1970 empfängt der Münsinger Landrat Oechsle Ministerpräsident Filbinger zu einer gemeinsamen Sitzung des Kreisrats sowie der Aktionsgemeinschaft. Trotz eines Abendessens im Gasthof Adler in Anhausen macht Filbinger klar, dass der Kreis Münsingen nicht erhalten bleibe. Ein Zeitungsbericht von damals lautet: »Die Reform will also niemand, niemand im Kreis Münsingen. Niemand hat auch im Kreis Reutlingen danach gerufen. Aber kriegen – kriegen werden wir sie alle«. (GEA)

www.kreis-reutlingen.de/kreisjubilaeum