REUTLINGEN. Die Pandemie ist vorbei, der erste Lockdown schon vier Jahre her. Jeder darf heute wieder ins Restaurant und in die Bar, jeder darf in den Club, jeder darf ins Fitnessstudio. Doch damals, im zweiten Corona-Winter, war die Impfung das Ticket zu diesen heiß ersehnten Freizeit-Aktivitäten. Wer die Spritze nicht wollte, war raus. Und das, obwohl schnell klar war, dass auch Geimpfte das Virus bekommen und weitergeben können. Ausgrenzung, die Spuren hinterlassen hat. Der GEA hat mit acht jungen Reutlingerinnen gesprochen, die sich nicht gegen Corona haben impfen lassen. Die Namen sind dem GEA bekannt, auf eigenen Wunsch wurden die Frauen aber anonymisiert.
»Sie lassen sich impfen, oder Sie sind raus.« Die Worte ihrer direkten Vorgesetzten sind einer 33-jährigen Reutlingerin deutlich in Erinnerung geblieben. Sie arbeitet in einem sozialen Beruf und die Pflege-Impfpflicht schwebte monatelang wie ein Damokles-Schwert über ihr. Und damit auch Existenzängste. Als die Impfpflicht schließlich - trotz viel Kritik - kam, meldete ihr Chef seine Mitarbeiter zwar beim Land als »unabkömmlich«. Sie konnten ihren Job behalten. Doch seitdem habe sie ein »komisches Gefühl« auf der Arbeit, sagt die 33-Jährige. »Unsere direkte Vorgesetzte stand einfach nicht hinter uns. Sie hätte uns einfach gehen lassen, obwohl wir uns so eingesetzt haben...« Für die 33-Jährige ein Loyalitätsbruch, der dazu führte, dass ihre bedingungslose Aufopferung für den Job nachgelassen hat.
»Du arbeitest in der Pflege, du musst doch so sozial sein und die Leute dort schützen« - das bekam eine 31-Jährige immer wieder zu hören. Auch ihr Arbeitgeber sah - im Gegensatz zu Benevit-Chef Kaspar Pfister - davon ab, ungeimpfte Mitarbeiter freizustellen. Doch der Druck, der durch die Pflege-Impfpflicht ausgeübt wurde, hat ihr Vertrauen ins System erschüttert. »Es macht mich traurig, wie schnell diese Spaltung entstanden ist und wie wenig Toleranz doch da war.«
Weitere Szenen aus der Arbeitswelt, von denen die Reutlingerinnen berichten: In einer Firma hing - kurze Zeit für alle einsehbar - eine Liste, auf der der Impfstatus der Mitarbeiter vermerkt war. Dazu immer wieder die als übergriffig empfundene Frage von Kollegen: »Warum lässt du dich nicht impfen?« Getuschel auf den Gängen, gesonderte Eingänge für Geimpfte und Ungeimpfte, stundenlanges Anstehen, um den Schnelltest für den nächsten Arbeitstag zu bekommen. Und dann das tägliche Vorzeigen dieses Testes vor allen anderen Kollegen. Die Wintermonate 2022 raubten allen vom GEA Befragten langfristig Energie und Spaß an der Arbeit, sie fühlten sich an den Pranger gestellt.
»Wir haben bis nach Corona nicht mehr miteinander gesprochen«
Doch noch mehr als der Druck am Arbeitsplatz trifft sie die Ausgrenzung im privaten Umfeld. »Wir hatten riesigen Krach mit der Familie meines Freundes«, berichtet eine 43-Jährige. »Wir haben bis nach Corona nicht mehr miteinander gesprochen.« Sie und ihre zwei Kinder seien nicht mehr zu Familienfeiern eingeladen worden, weil sie nicht geimpft waren. »Ich war richtig sauer damals«, erzählt sie. »Aber ich dachte mir dann eben auch: Wenn mein Impfstatus für euch so wichtig ist - dann brauch' ich das nicht.« Mittlerweile habe sich das Verhältnis beruhigt. Als Corona nicht mehr so in den Medien präsent war, durfte sie auch wieder zu Besuch kommen. »Doch es ist alles deutlich vorsichtiger und kühler von meiner Seite aus.«
Eine 25-Jährige berichtet von unschönen Worten, die damals im Familienkreis fielen: »So rücksichtslos, du bist eine Gefahr für die Gesellschaft.« Ihre Tante sei strikt dagegen gewesen, dass sie zu Familienfeiern kommt. Wenn, dann mit PCR-Test. Auch hier bringt die Impf-Frage das Familienverhältnis ins Bröckeln. »Früher haben wir uns oft gesehen. Seitdem das alles war, noch an Weihnachten.« Eine 24-Jährige berichtet von subtilem Druck innerhalb der Familie, von einem »Gefühl, nicht mehr erwünscht zu sein«. Sie wendet diese Erfahrung für sich nun ins Positive: »Dadurch hab' ich das wahre Gesicht von manchen Menschen gesehen.«
Freundschaften gingen wegen der Impf-Frage in die Brüche. »Einer meiner längsten und engsten Freunde hat mich auf Facebook und Whatsapp blockiert«, erzählt eine 43-Jährige. Die Begründung des Freundes: »Wer sich nicht impfen lässt, ist dumm.« Eine 31-Jährige erzählt: »Ich hab mich von zwei Freundinnen abgewendet.« Diese hätten sie bei jedem Treffen »massiv gedrängt«, sich impfen zu lassen. »Sie haben meine Entscheidung einfach nicht akzeptiert.« Immer wieder seien Treffen ausgemacht worden in Restaurants, garniert mit dem süffisanten Hinweis: »Wärst du geimpft, könntest du ja auch kommen.« Irgendwann habe sie keine Lust mehr auf diese Begegnungen gehabt.
Dass Ungeimpfte nicht mehr ins Restaurant durften - für eine 24-Jährige aus Pfullingen war das »mit die schlimmste Einschränkung«. Aber: Ihre engsten Freundinnen waren ebenfalls nicht gegen Corona geimpft, »deshalb haben wir aufeinander Rücksicht genommen«. Doch auch sie verliert andere, weniger enge Freundinnen in dieser Zeit. Ihre Eltern, ebenfalls nicht geimpft, lässt das Handeln der Regierung während der Pandemie enttäuscht zurück. Die Familie beschließt, die schon länger geplante Auswanderung aus Deutschland vorzuziehen: »Am Sonntag geht der Flieger nach Portugal.«
Obwohl die Pandemie vorbei und Impfen kein Thema mehr ist, sind einige der Befragten der Meinung, dass diese Streitfrage während der Corona-Zeit zu einer Spaltung in der Gesellschaft geführt hat, die bis heute anhält. »Meine Wut richtet sich weniger gegen die anderen Menschen, sondern vielmehr gegen Nachrichten und Politik«, sagt eine 26-Jährige. Denn durch diese seien sie und andere Ungeimpfte zu Unrecht an den Pranger gestellt worden. (GEA)