REUTLINGEN. Auf Fotografien vom Richtfest 1893/94 erinnert die Reutlinger Leonhardskirche Dr. Claudius Rall an ein Schiff. Trotzdem hat der Immobilienunternehmer das profanierte Bauwerk, in dem er einst getauft worden war, 2011 gekauft. Sie so umzubauen, wie er das vorhatte, klappte bislang – wie berichtet – nicht. Doch auch wenn die Kirche am Leonhardsplatz vor allem anfangs oft wegen ihres ungewöhnlichen Äußeren – Stichwort »Turnhallenstil« – geschmäht wurde, so hängen doch wie er viele Reutlinger an der als Ausweich-Andachtsstätte geplanten »Notkirche« mit ihrem charakteristischen Holzschindelturm. Nachdem man zu Beginn »nur an eine Art befristete Umleitung des Gemeindelebens gedacht hatte«, seien diese und die viel ältere Marienkirche, während deren Restauration die Leonhardskirche als Interims-Gotteshaus herhalten sollte, zu guten Nachbarn geworden, schrieb der damalige Dekan Gottfried Dinkelacker zum 100-jährigen Bestehen der von Oberbaurat Heinrich Dolmetsch einst für maximal 60 Jahre geplanten Fachwerk-Basilika. Dazu, was aus dem heute in privater Hand befindlichen Wahrzeichen der Süd- und Oststadt werden soll, haben auch die Stadträte von Reutlingen mehr oder weniger genaue Vorstellungen. Auf GEA-Nachfrage äußern sich die im Gemeinderat vertretenen Fraktionen.
Grüne und Unabhängige:
»Nach dem etwas verunglückten städtebaulichen Wettbewerb im Jahr 2017 gab es 2019 den ersten Schritt zur Aufstellung eines Bebauungsplans mit der Beschlussinformation zur frühzeitigen Beteiligung«, blickt Gabriele Janz von den Grünen und Unabhängigen auf die jüngsten Schritte zurück. Die Umgestaltung des Leonhardsplatzes könnte einen Beitrag zur Entwicklung des gesamten Areals bilden. Immerhin gingen aus dem Wettbewerb für den Leonhardsplatz mit Umfeld ein Bebauungsplan und ein Ergebnis zur zukünftigen Bebauung hervor. Doch seither herrsche dort Stillstand. Unbestritten: »Die Leonhardskirche ist im Besonderen für die Oststadt und den gesamten Leonhardsplatz ein prägendes Gebäude.« Doch mit der Entwidmung als Kirche sei dies »von einem öffentlichen Raum zu einem quasi privaten Raum geworden«. Ihre Fraktion habe »immer vertreten, dass dieser ehemalige Kirchenraum zukünftig auch als ein Raum gestaltet werden sollte, der der Öffentlichkeit zum Beispiel als Begegnungsraum oder Café zur Verfügung stehen sollte.« Ihr ist bewusst, dass das mit den Interessen des Eigentümers beziehungsweise mit der Frage, wer dann eine Sanierung des Gebäudes finanziert, kollidiert. Leider gebe es diesbezüglich derzeit noch keine Lösung. Doch erlaube der bauliche Zustand der Kirche »sicher keine längeren Wartezeiten mehr«. Sonst wäre sie »in der Substanz bedroht«.
CDU:
Die CDU sieht die Stadtverwaltung in der Pflicht: »Es wäre für Reutlingen wünschenswert, wenn hier die Verwaltung mit Offenheit auf den Investor zugeht und Lösungsansätze gemeinsam mit dem Gemeinderat und dem Investor erarbeitet«, teilt Gabriele Gaiser mit. Nur ein konstruktives Miteinander von Verwaltung, Politik und dem Investor könne zum Ziel führen. »Das Wettbewerbsergebnis zeigt eine ansprechende Bebauung mit interessanter Nutzung der Leonhardskirche als Versammlungsraum. Wir benötigen dringend Wohnungen in der Innenstadt, deshalb befürwortet die CDU-Fraktion eine Entwicklung des Leonhardsplatzes und in diesem Zusammenhang auch den Erhalt und die Nutzung der Leonhardskirche. Gerade auch im Hinblick auf das anstehende 130-jährige Jubiläum muss diese wunderschöne Kirche erhalten bleiben«, appelliert sie.
Investor ist am Zug
SPD:
Auch die SPD-Fraktion bekennt sich uneingeschränkt zu dem nun schon etwa 14 Jahre leerstehenden Bauwerk: »Die Leonhardskirche ist ein Denkmal, das erhalten werden muss«, schreibt Helmut Treutlein. Aus seiner Sicht ist aber nun der Investor am Zug: »Es war von Anfang an klar, dass der Umgang mit dem stadtbildprägenden Gebäude schwierig ist« – und dass mit Denkmälern kein Geld verdient werden kann. Der Investor habe durch den Kauf die Verantwortung für das gesamte Ensemble übernommen. Dazu brauche es mutige Schritte, wie es die Stadt etwa mit den Altstadthäusern in der Oberamteistraße in die Tat umsetze. Die SPD wünsche deshalb »den nötigen Weitblick für eine gute Lösung«. Der benachbarte »Bambipark« allerdings stehe zur Bebauung nicht zur Disposition: »Die Freifläche und das Grün sind für die dicht bebaute Stadt unverzichtbar.«
FWV:
Auch Georg Leitenberger aus Rommelsbach, der die Freie Wählervereinigung sowohl im Bezirksgemeinderat, im Stadtrat samt Bauausschuss wie im Kreisrat vertritt, ist froh, dass eine Nutzung oder Überbauung des »Bambiparks« in der Vergangenheit unter anderem durch seine Fraktion verhindert werden konnte. »Hier sollte wertvolles Grün im Quartier zerstört werden.« Die FWV meine jedoch ebenfalls, »dass hier vor allem der Eigentümer am Zuge ist«.
Unendliche Geschichte?
Linke Liste:
Rüdiger Weckmann von der Linken Liste bezeichnet den Leonhardsplatz als »das Herzstück der Oststadt«. Das Areal warte »seit vielen Jahren auf eine aufenthaltsfreundliche Gestaltung«. Und die Leonhardskirche spiele dabei eine zentrale Rolle. »Alle Anläufe, dabei Fortschritte zu erzielen, sind bisher gescheitert. Ein Instrument, die Eigentumsverpflichtung im Interesse der Stadtgesellschaft durchzusetzen, gibt es nicht. In diesem Fall die Verhinderung längerer Leerstände. Unser Antrag auf eine Zweckentfremdungssatzung, die diese Verpflichtung durchsetzen könnte, fand weder bei der Verwaltung noch bei der Gemeinderatsmehrheit Unterstützung.«
WiR:
Seit 2011 versucht die Firma Rall Immobilien, das ehemalige Gotteshaus zu entwickeln, blickt Professor Dr. Jürgen Straub, der Vorsitzende der WiR-Fraktion im Gemeinderat, zurück. »Pläne wurden dem Gemeinderat vorgestellt, es gab Ideenwettbewerbe, aber irgendwie verlief letztendlich alles im Sande, und das nicht zuletzt, weil auch das Denkmalamt eingrätschte.« Somit wurde die Leonhardskirche »leider eine unendliche Geschichte«, findet der Stadt- und Kreisrat. »Ich denke, eine Kirche umzuwidmen, ist nicht so einfach möglich, denn Gotteshäuser sind Orte der Begegnung, der Ruhe und Einkehr, und wenn diese wegfallen, hinterlassen sie für die Menschen eine Leere.« Eine öffentliche Nutzung, zum Beispiel für Veranstaltungen und Ausstellungen, halte er aber für schwierig – zudem sei das für den Investor auch »völlig unlukrativ«. Auch er findet: »Die kleine Grünfläche mit dem Rehle sollte auch aus stadtklimatologischen Gründen unbedingt erhalten bleiben.« Sie dürfe keinesfalls überbaut werden. Als zusätzliches Hemmnis komme nun hinzu: »Die Stadt hat kein Geld, den Leonhardsplatz umzugestalten. Sehr schade!«
FDP:
Optimistisch klingt hingegen die FDP: »Die Erhaltung der Leonhardskirche ist durch Zusagen des Investors gesichert«, teilt deren Fraktionsvorsitzender Hagen Kluck mit. »Was in der Kirche und drumherum entstehen soll, ist noch nicht geklärt.« Die FDP gehe aber davon aus, dass neue konkrete Planungen nach einer Entspannung auf dem Bausektor in Gang kommen. »Wir würden es begrüßen, wenn aus dem Bauwerk eine Veranstaltungsstätte entstehen könnte. Sozusagen eine 'Reutlinger Paulskirche'«.
AfD:
Die Vorstellung des neuen Gesangbuchs im Advent 1996 oder die Verabschiedung der Kantorin 2003 sind schöne Erinnerungen an ein aktives Gemeindeleben dort in dieser Kirche, die dann im Januar 2010 für immer geschlossen wurde. Der Reutlinger Immobilienunternehmer Dr. Rall hat eigentlich Erfahrung mit der Reutlinger Stadtpolitik, den Ämtern bis hin zum Denkmalschutz, er hätte wissen müssen, was er tat. Denkmalschutz, Datenschutz und Brandschutz - Deutschland stellt sich mit besten Vorsätzen selbst alle Beine und lähmt sich. Die Kirche war als Provisorium gebaut, nicht für die Ewigkeit.
Martin Luther hat schon alles nötige dazu gesagt und empfiehlt den Abbruch: »Denn keyn ander ursach ist kirchenn zu bawen, ßo yhe eyn ursach ist, denn nur, das die Christen mugen tzusammenkommen, bitten, predigt horen und sacrament empfahen. Und wo diesselb ursach auffhoret, sollt man dieselbe kirche abbrechen, wie man allen anderen hewßern thut, wenn sie nymmer nütz sind.«
Wenn der Denkmalschutz sich nicht beteiligen will, sollten Verwaltung, Gemeinderat und Investor den Denkmalschutz aufheben lassen. Dann kann der Bagger kommen und neuer Wohnraum entstehen. (GEA)