REUTLINGEN. Wer im Stau steht, hat selten gute Laune. Noch dazu, wenn einem dämmert, dass es sich um ein per Ampelschaltung programmiertes Phänomen handelt, wie derzeit auf der Konrad-Adenauer-Straße. Da helfen weder süffisante Belehrungen nach dem Motto: »Du stehst nicht im Stau, du bist der Stau«, noch tröstende Worte der Stadtverwaltung, man befinde sich in einer Testphase. Erklärtes Ziel: Den Durchgangsverkehr Richtung Pfullingen weiträumig über den Scheibengipfeltunnel zu lotsen und die Schadstoffbelastung in der Lederstraße zu reduzieren, wo seit dieser Woche obendrein Tempo 40 gilt.
Entsprechend massiv ist die Kritik an den – vom Tübinger Regierungspräsidium (RP) angeordneten – Maßnahmen zur Luftreinhaltung: »Hab’ jetzt 45 Minuten für 7 Kilometer gebraucht«, konstatiert »Ze Lubina« auf der Facebook-Seite des Reutlinger General-Anzeigers, »und noch nie so viele gefährliche Situationen erlebt« – zum Beispiel, weil Autofahrer auf der Konrad-Adenauer-Straße einfach wenden. Auch Fabian Bail echauffiert sich über die »neue (Um-)Welt in Reutlingen«: 36 statt 6 Minuten brauchte er vom Schafstall, wo er wohnt, zur Arbeit am Bahnhof. Der Luftreinhalteplan ist für ihn »mehr ein Luft-Verschiebe-Plan«. Dann doch lieber Fahrverbote direkt für die Lederstraße, meint Bail.
»Fährt Frau Bosch auch jeden Tag auf der B 28?«
»Dümmer geht’s nimmer«, schreibt Facebook-Kommentatorin Christine Bell: Der Scheibengipfeltunnel habe die Verkehrssituation in Reutlingen »ein paar Wochen« lang endlich verbessert – nun der Rückschlag: »Fährt Frau Bosch auch jeden Tag auf der B 28?« Reutlingens Oberbürgermeisterin hatte ungeachtet einer anderslautenden, mehrheitlich verabschiedeten Stellungnahme des Gemeinderats dem Tübinger Maßnahmenpaket das Einvernehmen der Stadt Reutlingen erteilt. Dass »der Gemeinderat mehrheitlich dagegen gestimmt hat«, betont WiR-Stadtrat Dr. Sven Fischer in seinem Facebook-Kommentar: »… aber das Regierungspräsidium und die Stadt setzten sich durch …« Richtig ist jedoch, dass der Gemeinderat gar nicht gegen die vom RP empfohlenen Maßnahmen stimmen konnte, weil sie schlicht nicht zur Abstimmung standen, und die Behörde sie nach eigenem Bekunden auch angeordnet hätte, wenn die städtische Einvernehmensbekundung ausgeblieben wäre.
»Wir leben in einer Verbotsrepublik, die ihre Bürger drangsaliert«, schimpft Karin Kron, während Oliver Bernard einen weiteren Aspekt anspricht: »Die Online-Händler freuen sich. So kann man auch zum Innenstadtsterben beitragen.« Irmela Diebold wähnt sich »verkehrsplanerisch im tiefsten Mittelalter« oder gar der Steinzeit und setzt vier Fragezeichen hinter die »Testphase in Echtzeit« – »wo gibt’s den sowas?« Schade, dass es »keine Systeme gibt, die sowas im Vorfeld simulieren können«, meint auch ein User mit dem Pseudonym Jott Em Kah.
»So kann man auch zum Innenstadtsterben beitragen«
Für Anwohner des Lerchenbuckels sei »diese unglaublich bescheuerte Ampelschaltung einfach nur Hohn«, schreibt Johannes Tessarrek. Er habe jetzt die Wahl, entweder im Stau zu stehen, oder über die Gustav-Schwab-Straße »einen totalen Umweg zu fahren«.
Eine Ausnahmeposition unter den Facebook-Kommentaren nimmt Joachim Weiß ein: »Wenn der Zug schneller ist, dann steigen intelligente Menschen um, dann haben die anderen wieder freie Fahrt. Also ruhig mehr Stau!«
Nicht nur auf Facebook schlägt die Ampelschaltung Wellen, auch GEA-Kommentatorin Andrea Glitz, die die »Phalanx der Auto-Fraktionen« im Gemeinderat wegen des aus ihrer Sicht falschen Signals kritisierte, steht im E-Mail-Austausch mit am Thema interessierten Lesern. Und dass es davon jede Menge gibt, dokumentieren darüber hinaus heute die Zuschriften auf eineinhalb Leserbriefseiten.
Welche (un-)praktischen Auswirkungen die Ampelschaltung selbst abends noch mit sich bringt, zeigte sich bei einer Volksbank-Veranstaltung in der Reihe »Reutlinger Mundartwochen« am Donnerstag: Besucher von »Helge und das Udo« kamen staubedingt bis zu 20 Minuten zu spät. (GEA)