REUTLINGEN. In Reutlingen hungern Viele nach günstigem Wohnraum. Schon lange, bevor im Herbst 2023 Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesbauministerin Klara Geywitz (beide SPD) ihr Maßnahmenpaket für mehr bezahlbaren und klimagerechten Wohnungsbau vorstellten, hatte deshalb die Stadt im April 2017 die »Wohnbauflächenoffensive 2025« ausgerufen. Um insbesondere preiswerten Wohnraum auf städtischem Grund zu fördern, mit vollem Handlungsspielraum für die Stadt. So ließen sich Projekte am besten steuern und »alle Bevölkerungsgruppen zufriedenstellen«, wie es in der Broschüre dazu heißt. Dabei sollen Eigentumswohnungen auch mal unter dem Verkehrswert verkauft werden, und zumindest 15 Prozent der Mieten unter dem ortsüblichen Schnitt liegen.
»Das ist wie ein Topf, der seit ewiger Zeit auf dem Herd steht«
Während im Schafstall und Seidenviertel, am Stuttgarter Tor und in dem gerade fertiggestellten »Stadtleben Burgstraße« einiges voranging, scheint das geplante Wohnbaugebiet »Orschel-Hagen Süd«, dessen Anfänge in die 1990er-Jahre zurückreichen, seit zwei Jahren im Dornröschenschlaf versunken. Hannes Höltzel von der Interessengemeinschaft Einkaufen und Leben in Orschel-Hagen (Igeloh) spricht von einem »Topf, der seit ewiger Zeit auf dem Herd steht und vor sich hin köchelt«. Das lässt an ein anderes Grimmsches Märchen denken. Dieser »Süße Brei« kocht zwar nicht unkontrolliert über, aber »immer mal wieder blubbert’s a bissle«, schildert Höltzel.
Aktuell tut sich jedoch wieder etwas in dieser Sache: »An dem Bebauungsplan für das Baugebiet Orschel-Hagen/Süd arbeiten GWG und Stadtverwaltung zurzeit intensiv«, teilt Stefan Dvorak, der Leiter des Amts für Stadtentwicklung, auf Nachfrage mit.
Einst war die Vorstellung eines großen zusätzlichen Wohngebiets südlich der bisherigen Bebauung bei den Orschel-Hagenern auf Ablehnung gestoßen, erinnert sich Hannes Höltzel. Doch mit fortschreitenden Planungen wuchs in dem als Gartenstadt in den 1960ern entstandenen Stadtteil – um in Höltzels Bild zu bleiben - der Appetit. 2012 wurde ein Planungswettbewerb ausgeschrieben. Die Stadt wollte mit »Orschel-Hagen Süd« ein Wohngebiet ausweisen, »das der oberzentralen Funktion der Stadt gerecht« werde und im Hinblick auf den demografischen Wandel in die Zukunft weise.
Auf rund 4,7 Hektar sollte unter der Ägide der Wohnungsbaugesellschaft GWG die Nachfrage nach familiengerechtem, preisgünstigem und generationenübergreifendem Wohnen befriedigt werden – mit maximaler Rücksicht auf Faktoren wie Klimaschutz, Einsatz erneuerbarer Energien, effizienter Wärmedämmung, solarem Bauen und »Minimierung der Flächeninanspruchnahme«.
Dem entsprach der Siegerentwurf der Esslinger Project GmbH, der als Leitidee elf zwei- bis fünfstöckige »Wohnhöfe« aus Reihen- und Doppelhäusern mit 250 Wohneinheiten und knapp 23.000 Quadratmetern Wohnfläche vorsah. Die Zufahrt sollte vom Dresdner Platz her über einen sogenannten »Shared Space« mit gleichen Rechten für Fußgänger, Rad- und Autofahrer erfolgen. Das gefiel den Orschel-Hagenern überaus gut.
Dann war es wieder ruhig um das Vorhaben. Und der Beschlussvorschlag, der dem Gemeinderat 2017 vorgelegt wurde, entlarvte »Shared Space« als allzu märchenhaft-utopisch – und sah stattdessen eine Tempo-30-Zone vor. Die Wohnhöfe sollten »nachverdichtet« werden, auf 370 Wohneinheiten mit knapp 28.000 Quadratmetern Wohnfläche. Nach der Einholung von Artenschutz- und Wasserrecht-Gutachten sollte Ende 2018 der Auslegungsbeschluss vorliegen.
»Der Tisch ist längst gedeckt. Aber kein Mensch weiß, was es zu essen gibt«
Doch den Anwohnern verging angesichts dieser Änderungen die Lust daran. Auch wenn die Süderweiterung idealerweise die Infrastruktur stärken sollte – mehr Kunden sind schließlich gut für die Geschäfte im Stadtteil –, so machten ihnen die befürchtete Gettoisierung durch allzu massive Bebauung und der Verlust des Grüngürtels zum Dietweg hin das Märchen vom Aufschwung madig. Dem Charakter ihrer Gartenstadt würde das den Garaus machen, hieß es damals.
So packte man – metaphorisch gesprochen – die bereitgelegten Löffel erstmal wieder weg.
2019 hatte sich der »süße Brei« der Süderweiterung dann noch weiter ausgedehnt, auf 380 Wohneinheiten. Vorsorglich wurden die geplanten Erschließungsstraßen getauft: auf Bouakéallee, Ellesmere Port- und Szolnok-Höfe. »So einen Stand haben wir immer mal wieder gehabt«, meint der Igeloh-Sprecher dazu. Doch die GWG habe stets wieder abgebremst. Im April 2021 sollte auf die Tiefgaragen aus CO2- Emissionsgründen verzichtet werden, stattdessen war von zwei Sammelgaragen die Rede. Im September wurde der Dietenbach renaturiert. Zum Bau eines neuen Regen- und eines Mischwasserkanals musste auch der Bereich um die beiden Kirchen St. Andreas und Jubilate aufgerissen werden. Doch obgleich dort mal die Bouakéallee durchführen soll, wurde der wieder zugeteert.
Die Allee hätte zu jenem Zeitpunkt ins Nichts geführt. Das wollte man verhindern. Mehr als ein halbes Jahrzehnt später liegt das Gelände noch immer brach. Inzwischen sei der Tisch längst gedeckt, sagt Höltzel. »Aber kein Mensch weiß bisher, was es zu essen gibt.« Und vor allem, wann. Dabei wäre es wichtig, dass sich endlich etwas tut. Denn mit den Jahren, die ins Land ziehen, verfielen auch die einst für die Bebauungsplanentwicklung eingeholten Gutachten, meint er. Nachher siedle sich dort doch noch eine Haselmaus an. Oder eine streng geschützte Echse. Da würde sich die Geschichte dann irgendwann der Mär vom »Hasen und dem Igel« annähern.
»Die Planungen für das Neubaugebiet sind auf einem guten Weg«
Dabei wächst der Hunger nach bezahlbarem Wohnen weiter: »Es besteht ganz dringender Bedarf«, erklärt der Igeloh-Sprecher. Die Stimmung sei emotional.
Jüngst stand das Thema nun wieder auf der Tagesordnung des Bauausschusses – allerdings im nichtöffentlichen Teil. Im Frühjahr soll die Öffentlichkeit über den aktuellen Stand der Planungen informiert werden, heißt es dazu aus dem Rathaus. In der zweiten Jahreshälfte folgten dann Beratung und Beschlussfassung zum Planentwurf im Gemeinderat. »Die Planungen für das Neubaugebiet sind auf einem guten Weg«, meint Dvorak. So schließt diese unendlich scheinende Geschichte vielleicht doch noch mit einem Happy End. (GEA)
Was ist für Normalverdiener noch bezahlbar?
Wohnen ist nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie für viele Menschen noch wichtiger geworden als zuvor. Ein Zuhause, in dem wir uns behaglich und sicher fühlen, ist neben einem zufriedenstellenden Arbeitsplatz, Nahrung und medizinischer Versorgung essentiell. Doch günstige Mietwohnungen sind von Immobilienportalen für Reutlingen und Umgebung meist schneller wieder verschwunden, als man sie anklicken kann. Gerade die häufig nachgefragten Wohnungsgrößen von zwei bis drei Zimmern, von unter 60 bis 90 Quadratmetern, sind selbst für Otto-Normal-Verdiener teuer, Quadratmeterpreise von weniger als 9,80 Euro selten. Viele Angebote liegen bei 11 bis 14 Euro per Quadratmeter, was bei Einpersonenhaushalten eines oder einer Berufstätigen meist eher die Hälfte als das empfohlene Drittel des Monatsnettoeinkommens ausmacht - und für Rentnerinnen und Rentner häufig jenseits des Möglichen liegt. Von Alleinerziehenden, arbeitsunfähig Erkrankten oder Arbeitslosen ganz zu schweigen. Im jüngst fertiggestellten Areal Burgstraße 40 betragen die Kaltmieten einem lokalen Immobilienbüro zufolge zum Beispiel 1.170 bis 1.450 Euro für 84 bis 94 Quadratmeter Wohnfläche. (dia)