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Aktuell Kommunalwahlen

Warum Reutlinger Parteien auf Straßenwahlkampf setzen

Trotz Digitalisierung: In Reutlingen hat der Straßenwahlkampf längst noch nicht ausgedient. Gemeinderats- und Kreistagskandidaten zeigen in der Fußgängerzone Flagge und werben um Wählerstimmen.

Friedliches Nebeneinander der Kommunal-Kandidaten: Wie bunte Perlen an einer Kette reihen sich die Wahlstände der Parteien beim
Friedliches Nebeneinander der Kommunal-Kandidaten: Wie bunte Perlen an einer Kette reihen sich die Wahlstände der Parteien beim Spitalhof aneinander. Foto: Stephan Zenke
Friedliches Nebeneinander der Kommunal-Kandidaten: Wie bunte Perlen an einer Kette reihen sich die Wahlstände der Parteien beim Spitalhof aneinander.
Foto: Stephan Zenke

REUTLINGEN. Straßenwahlkampf – darin herrscht listenübergreifende Einigkeit – ist trotz fortschreitender Digitalisierung kein Anachronismus, sondern nach wie vor ein wichtiges Instrument der Wählermobilisierung und -information. Natürlich haben Dialoge auf der Gass’ nicht jene Reichweite, die Social-Media-Clips und Co. gemeinhin zugesprochen wird. Wertvoll sind Vier-Augen-Gespräche für die Parteien und Polit-Gruppierungen, die allesamt auch im Internet Präsenz zeigen, aber dennoch.

Regine Vohrer (FDP) spricht in diesem Zusammenhang von »intensivem Austausch«, Kurt Gugel (FWV) und Gabriele Gaiser (CDU) von einem »direkten Draht zum Bürger« und Hansjörg Schrade (AfD) von einem »unentbehrlichen Mittel, um Flagge zu zeigen«. Individuelle Fragen, heißt es, könnten gezielt und ohne zeitlichen Versatz beantwortet werden. Außerdem sei Straßenwahlkampf eine überaus niederschwellige Form der Stimmen-Werbung, die im Übrigen keineswegs der Seniorität vorbehalten sei. Zumal auch jüngere Semester den Weg an die Info-Stände finden und sich auf Dialoge mit Gemeinderats- und Kreistagskandidaten einlassen. Ja, es gibt sogar Interessierte, die konsequent alle Polit-Formationen abklappern und deren Wahlprogramme eintüten, um sich ein detailliertes Bild vom Markt der kommunalpolitischen Möglichkeiten zu machen.

Politikverdrossenheit? Die, so der Tenor, sei deutlich schwächer ausgeprägt, als zuweilen behauptet wird. »Davon merken wir wenig«, sagen Winfried Müller (FWV) und Professor Dr. Jürgen Straub (WiR). Natürlich gebe es immer mal Leute, die grundsätzlich keine Lust auf kommunalpolitische Diskussionen haben. Doch deren Anteil sei gering. Was von Mert Akkeceli (SPD) bestätigt wird: »Manche Menschen kann die Politik zwar nicht erreichen. Meiner Beobachtung nach bilden sie aber die Minderheit.« Deutlich präsenter als Verweigerer seien »interessierte Bürger« sowie Bruddler, die erst mal Dampf ablassen, um sich sodann sachlicher Argumentation zu öffnen.

Wobei dieses Dampf-Ablassen vor allem Gemeinderats- und Kreistagsbewerber jener Parteien trifft, die in Bundes- und Landtag vertreten sind. Denn vom Wähler werde vielfach nicht zwischen Berlin/Stuttgart und Reutlingen differenziert. Und stellvertretend für Habeck, Scholz oder Lindner kriegen deshalb Melanie Amrhein (Grüne und Unabhängige), Mert Akkeceli (SPD) und Regine Vohrer (FDP) den Unmut der Straße zu spüren. Derweil die total lokal verorteten Gruppierungen »Wir in Reutlingen« und »Freie Wählervereinigung« nur ausnahmsweise mit landes- oder bundespolitischen Themen beziehungsweise mit dem aus ihnen resultierenden Frust konfrontiert werden. Mit wüsten Verbalentgleisungen oder Übergriffigkeiten glücklicherweise auch nicht.

Was derlei eklatante Grenzüberschreitungen betrifft, ist die Reutlinger AfD definitiv am stärksten betroffen – von Störaktionen der Antifa. Was Hansjörg Schrade indes kühl lässt: »Ich fühle mich trotzdem sicher.« Und Leute, die ihn und seine Mitstreiter im Vorbeigehen als »Nazis« beschimpfen? Die ignoriert er geflissentlich.

Alles in allem sei der Umgangston in diesem Wahlkampf pfleglich. Zwar wurde Gabriele Gaiser heuer beim Aufhängen von Wahlplakaten übelst angegangen, beklagt Mert Akkeceli digitale Hasskommentare – dies freilich sind (verstörende) Randerscheinungen. Denn im Mittelpunkt stehen Sachfragen, Polit-Programme und Zukunftswünsche. Welche Top-Themen an den einzelnen Ständen diskutiert werden, sei im Folgenden skizziert.

Grüne und Unabhängige

Mitgebsel der Grünen und Unabhängigen: Pflanzenkohle und Windrädle.
Mitgebsel der Grünen und Unabhängigen: Pflanzenkohle und Windrädle. Foto: Stephan Zenke
Mitgebsel der Grünen und Unabhängigen: Pflanzenkohle und Windrädle.
Foto: Stephan Zenke

An ihrem Stand, verrät Melanie Amrhein, drehen sich die Gespräche hauptsächlich um Verkehr (Radverkehr und Regionalstadtbahn) sowie um die Entwicklung der Innenstadt. Gedruckte Wahlprogramme werden ebenso gerne angenommen wie »Mitgebsel« in Form von Windrädern und Pflanzenkohle-Beutel. Abreibungen kassieren die Grünen wegen des Hickhacks ums Energiegesetz, das viele Bürger bis zur Verärgerung verunsichert hat. Eine Frage, die die Partei mit der Sonnenblume im Logo besonders umtreibt: Wie erreicht man die Erstwähler? Grüne Antwort: per Briefkastenpost mit persönlichem Anschreiben.

Christdemokraten

Wahlkampf durch die Blume: Die CDU wirbt mit Rosen. Foto: Stephan Zenke
Wahlkampf durch die Blume: Die CDU wirbt mit Rosen.
Foto: Stephan Zenke

Lokalpolitische Schwergewichte, die am Stand der Christdemokraten oft angesprochen werden, sind ebenfalls die Entwicklung der Reutlinger Innenstadt inklusive Einzelhandel und das Thema Verkehr in seiner gesamten Bandbreite, wie Gabriele Gaiser sagt. »Nacht- und Quartiersbusse sind Gegenstand der Diskussionen, aber auch die Sorge, dass die Innenstadt für den Autoverkehr gesperrt wird.« Oft werde Gaiser außerdem auf den CDU-Bundesparteitag angesprochen. Fast immer sachlich. Wiewohl es durchaus zu vereinzelten Pöbeleien kommt. »Dann versuchen wir deeskalierend einzuwirken, was in aller Regel klappt.« Zuweilen lassen die CDU’ler auch Blumen sprechen – und überreichen Passanten Rosen.

Sozialdemokraten

SPD-Mitgebsel: Am Stand der SPD sieht man buchstäblich Rot.
SPD-Mitgebsel: Am Stand der SPD sieht man buchstäblich Rot. Foto: Stephan Zenke
SPD-Mitgebsel: Am Stand der SPD sieht man buchstäblich Rot.
Foto: Stephan Zenke

Top-Themen am Stand der Sozialdemokraten sind (frühkindliche) Bildung und der Wohnungsbau. »Viele jüngere Leute, junge Familien«, weiß Mert Akkeceli, »sind verzweifelt auf der Suche nach bezahlbaren Wohnraum.« Dabei rufen sie nicht einfach bloß »bauen, bauen, bauen«, sondern können sich zum Beispiel auch Wohnungstausche vorstellen: Senioren verkleinern sich, junge Familie vergrößern sich räumlich. Dass manche Passanten zunächst nicht zuhören, sondern »motzen wollen«, gehört für Akkeceli zum Straßenwahlkampf dazu. Oft entwickeln sich aus anfänglichen Nörgeleien »richtig gute Gespräche«.

Freie Wähler Vereinigung

Die FWV hat ein Ladenlokal angemietet, in dem sich’s gemütlich Parlieren lässt. Foto: Frank Pieth
Die FWV hat ein Ladenlokal angemietet, in dem sich’s gemütlich Parlieren lässt.
Foto: Frank Pieth

Für Wahlkampfzwecke hat die FWV einen Laden in der Kanzleistraße angemietet und öffnet hier an Markttagen die Tür für politisch Interessierte, die dann in Cocktail-Sesseln mit den Kandidaten gemütlich in Dialog treten können. Was die Gesprächspartner umtreibt? »Ganz klar: die Kinderbetreuung – Gebühren senken und weitere Plätze schaffen – sowie die Stärkung des Busverkehrs«, so Kurt Gugel und Winfried Müller. Doch das ist leichter gesagt als getan. »Der Knackpunkt« ist in beiden Fällen der Personalmangel. Hier gegenzusteuern sei oberstes Gebot. Was außerdem für die Schaffung bezahlbaren Wohnraums gelte.

Wir in Reutlingen

Am WiR-Stand drehen sich die Gespräche oft um mehr Bürgerbeteiligung. Foto: Stephan Zenke
Am WiR-Stand drehen sich die Gespräche oft um mehr Bürgerbeteiligung.
Foto: Stephan Zenke

Die Kandidaten der WiR-Liste haben nach zwei Anläufen – Tübinger Tor und Nikolaikirche – endlich den perfekten Standort für den Straßenwahlkampf gefunden: am Ende der Oberen Wilhelmstraße. Dort knoddeln sich nicht die Massen, aber es gibt, so Jürgen Straub, trotzdem Publikum für »konstruktive Gespräche«. Diese drehen sich schwerpunktmäßig um die Hoffnung auf einen »Verkehrsentwicklungsplan für alle am Straßenverkehr Beteiligten« sowie um die Schaffung eines »Stadtentwicklungsplans«. Außerdem fordern die Leute mehr Bürgerbeteiligung bei Großprojekten ein. Reizthemen hier sind Glashaus und Hotel im Bürgerpark.

Freie Demokraten

Rund läuft der Straßenwahlkampf am Stand der FDP. »Die Stimmung ist gut, und es fühlt sich für mich ein bisschen nach Weindorf ohne Wein an«, schmunzelt Regine Vohrer. Dauerbrenner an ihrem Stand sind die Themen »Innenstadtentwicklung nebst Fußgängersteg und Oberamteistraße« sowie die Renovierungsbedürftigkeit maroder Schulgebäude und Sporthallen. »Schulen müssen so gestaltet sein, dass sich die Menschen wohlfühlen, gute Lernatmosphäre vorfinden.«

Linke Liste

Wegen des Ausscheidens von Sahra Wagenknecht aus der Linkspartei und den damit verbundenen Verwerfungen, ist Reutlingens Linke mit einiger Verzögerung in den Wahlkampf eingestiegen, so Rüdiger Weckmann. Jetzt, da man sich sortiert hat, geht die Liste aber in die Vollen. An ihrem Stand gibt es zwar »keine Top-Themen, sondern eher Diverses«. Dieser Mix sei jedoch spannend. Er reicht vom kostenlosen Bahn- und Sozialticket bis hin zur Personalie Jessica Tatti.

Alternative für Deutschland

»Ich will keinen überzeugen, sondern informieren«, sagt Hansjörg Schrade, der es richtig und wichtig findet, dass am AfD-Stand nicht nur Kommunales, sondern auch Bundespolitisches diskutiert wird. Denn »was Berlin verordnet, muss ja von den Kommunen erfüllt werden«. Was in Reutlingen, zu Schrades Verdruss, gar zu willfährig geschehe. Top-Themen, die an ihn herangetragen werden, sind: »Migration und Niedergang der Wirtschaft.« (GEA)