REUTLINGEN. Die Lage ist angespannt: Das wird schnell klar, wenn man mit Mitgliedern des Arbeitskreises (AK) Innenstadt ins Gespräch kommt. In diesem Arbeitskreis treffen sich regelmäßig Vertreter der Jugendhilfen aus den unterschiedlichsten Bereichen (siehe Infobox). Zum letzten Gesprächskreis war der GEA eingeladen, die Sozialarbeiter und -pädagogen haben von den Herausforderungen berichtet, vor denen sie aktuell stehen, und die immer mehr werden. Zudem haben sie ein Papier verfasst, in dem sie auf die Lage der Sozialeinrichtungen und vor allem der jungen Leute, die Hilfe brauchen, aufmerksam machen wollen.
Denn: Die Zahl der Jugendlichen, die Unterstützung brauchen, um mit ihrem Leben klarzukommen, steigt seit Jahren an. Und oft sind es keine kleinen Sorgen, die sich mit einem oder zwei Gesprächsterminen beheben lassen, ganz im Gegenteil. »Die jungen Menschen befinden sich zunehmend in Multiproblemlagen«, fasst es die mobile Jugendarbeit zusammen. Sie haben häusliche Probleme, die oft schulische nach sich ziehen, nehmen diese überhand, kommt es erst zum Schulschwänzen bis hin zur kompletten Schulverweigerung. Die Jugendliche haben keinen geregelten Tagesablauf und keinen Ort mehr, an den sie kommen können. Sie landen auf der Straße, betäuben sich mit Alkohol und Drogen, werden straffällig und aggressiv.
Mehr Drogentote befürchtet
Besonders erschreckend dabei ist, dass immer mehr Jugendliche zu harten Drogen greifen und die Konsumenten jünger werden. Eine Entwicklung, die die Reutlinger Drogenberatungsstelle mit Sorge beobachtet: »Die Überdosierungen, auch im öffentlichen Raum, haben zugenommen. Eine Zunahme von Todesfällen ist hier ebenfalls zu befürchten.« Außerdem geht eine Sucht so manches Mal mit Straffälligkeit einher, angefangen vom illegalen Besitz der Drogen bis zur Beschaffungskriminalität.
Sind die Jugendlichen erst einmal auf die schiefe Bahn geraten, wird es immer schwieriger, sie wieder auf den rechten Weg zu bringen. Die Sicht auf legale Arbeit wird durch eine frühe Straffälligkeit oft verzerrt, der Einstieg in die Arbeitswelt kommt vielen unattraktiv vor, beobachten Mitarbeiter der Straffälligenhilfe. Oft fehlt Jugendlichen mit solchen Problemen die Motivation, um zur Arbeit oder in die Schule zu gehen. Diese Schwierigkeiten kennen auch die aufsuchenden Hilfen nur zu gut. »Pep – Potenziale erkennen, Perspektiven entwickeln« heißt das Projekt, mit dem Bruderhausdiakonie und Jobcenter gemeinsam versuchen, Menschen zu erreichen, die aufgrund ihrer prekären Situation bis dahin eher »abgetaucht« sind. Die jungen Menschen fühlen sich perspektiv- und chancenlos, manche leiden unter psychischen Erkrankungen oder haben sonstige Hindernisse, die sie vom Arbeiten abhalten.
Endstation Straße
Auch die Wohnungsnotfallhilfe der AWO hat derzeit alle Hände voll zu tun. Ihr Klientenkreis werde immer größer, berichten sie, »und wir haben große Sorge, dass sich die aktuelle Lage weiter verschärft«. Oft leiden die Menschen, die zu ihnen kommen, unter multiplen, existenziellen Problemlagen. Viele der Hilfesuchenden sind bereits wohnungslos, sie werden dann in Notunterkünften untergebracht, oder ihnen droht der Verlust des Wohnraums. Nicht selten kommen sie aus anderen Hilfseinrichtungen, wie der Sozialpsychiatrie, der Jugend- oder Straffälligenhilfe, und die AWO ist oft das letzte Auffangnetz. Doch es wenden sich auch immer mehr Menschen an sie, die sich trotz Berufstätigkeit keine Wohnung mehr leisten können. Der Bedarf an Sozialwohnungen ist so groß wie nie, die Chancen, eine solche zu bekommen, sind gering. Besonders gefährdet für Obdachlosigkeit sind Familien mit Kindern, was auch Folgekosten für die Gesellschaft mit sich bringt. Denn, so die Warnung der AWO-Sozialarbeiter: »Betroffene Kinder haben äußerst schlechte Startbedingungen, um sich selbst ein gutes Leben aufzubauen.«
Aber auch in den mittleren und oberen Bevölkerungsschichten nehmen die Nöte und Ängste der Jugendliche zu – an den Schulen werden die Nachfragen bei der Schulsozialarbeit stetig mehr, berichten diese. Am Gymnasium oder der Realschule leiden viele unter Leistungsdruck, »die Schüler haben Ängste, Depressionen, sie werden aggressiv oder verletzen sich selbst«. Die Schüler stünden vor ihrem Büro Schlange, Zeit, um sich intensiv um sie zu kümmern, habe sie nicht. Oft ist ein Sozialarbeiter für mehrere hundert Schüler zuständig.
Weltlage sorgt für Ängste
Mangel an Zeit und Personal beklagen fast unisono alle, die in der Jugendarbeit tätig sind. »Bei uns herrscht Land unter«, sagt eine der Helferinnen, »wir hecheln der Lage mit hängender Zunge hinterher.« Dabei liege die Verantwortung für diese vielen Probleme meist nicht bei den Jugendlichen. »Der Rucksack, den viele zu schleppen haben, ist unglaublich voll.« Eltern fühlen sich überlastet, sie resignieren vor großen Problemen, und die gesamte Weltlage sorgt bei den Jugendlichen für Ängste. Klimawandel, Kriege, die Wirtschaftskrise: »Da braucht man schon eine gehörige Portion Resilienz, um damit umgehen zu können«.
Der AK Innenstadt und seine Mitglieder
Der AK Innenstadt trifft sich alle zwei Monate im Jugendhaus am Federnsee zum informellen Austausch und um sich gegenseitig auf dem Laufenden zu halten und zu unterstützen. Vertreten sind Hilfseinrichtungen mit den unterschiedlichsten Angeboten und aus allen Bereichen.
Mit dabei sind unter anderem: Mobile Jugendarbeit (Hilfe zur Selbsthilfe), die Fachaufsicht offene Jugendarbeit vom städtischen Amt für Schule, Jugend und Sport, das PEP-Projekt der Bruderhausdiakonie (Hilfe zur Ausbildung und Qualifizierung), Wohnungslosenhilfe der AWO, Jugendhilfe im Strafverfahren, Drogenberatungsstelle, Jugendcafe, ridaf – Reutlinger Initiative deutsche und ausländische Familien und die Schulsozialarbeit mehrerer Schulen.
Mehr zu den Einrichtungen, ihrer Arbeit und den Problemlagen gibt es unter https://padlet.com/danielmarenke/ak-innenstadt-offener-brief-ixunovaqkfh58566.
An solch einer Widerstandsfähigkeit im Umgang mit Krisen fehlt es selbst vielen Erwachsenen, wie sollen es da die Jugendlichen schaffen? Corona habe viele der Probleme verschärft, sagen die Sozialpädagogen, bis heute spüre man die Folgen der Isolation während der Pandemie. Auch die Probleme der Flüchtlinge sind immens, viele leiden unter traumatischen Kriegs- und Fluchterlebnissen. Viele Jugendliche bräuchten eigentlich einen Therapieplatz oder tiefer greifende Hilfestellungen, aber auch hier gibt es viel zu wenig Plätze, die Wartelisten sind lang. Genauso fehlt es für Präventionsprojekte an Personal und Geld.
Für die Mitarbeiter im Sozialsystem sind diese Zustände enorm belastend. Sie wollen darum auf ihre Situation und die der Jugendlichen aufmerksam machen. Es brauche ein Umdenken und eher mehr Förderung sowie eine personelle Aufstockung für Hilfsorganisationen als weitere Sparmaßnahmen. Denn wenn die Jugendlichen nicht lernen, ihr Leben zu meistern, werde das irgendwann zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem. Die Akzente würden falsch gesetzt, und das berge Sprengkraft für die gesamte Gesellschaft. (GEA)