REUTLINGEN. Öffentlichkeitswirksam sind meistens große Strafverfahren, in denen schwerwiegende Straftaten verhandelt werden. »Die Sozialgerichtsbarkeit ist bei Weitem nicht so vertreten in der Öffentlichkeit«, sagt Martin Rother, Präsident des Sozialgerichts Reutlingen beim jährlichen Pressegespräch am Mittwoch, zu dem er mit den Richtern Raphael Deutscher und Christof Weber eingeladen hat. Dabei geht es vor dem Sozialgericht durchaus auch um existenzielle Fragen: Streitfragen in den Bereichen Sozialhilfe, bei Asylbewerberleistungen, der Unfall-, Kranken- und Pflegeversicherung, Hartz IV/ jetzt Bürgergeld, aber auch Differenzen im Schwerbehindertenrecht sowie bei der Arbeitslosen- und Rentenversicherung werden hier geklärt.
Fallzahl recht konstant
2.546 Klagen und Eilanträge erreichten das Reutlinger Sozialgericht im Jahr 2023, rund 100 mehr als im Vorjahr. Elf Kammern mit elf Richtern in Vollzeit bearbeiten Fälle aus den Landkreisen Tübingen, Zollernalb, Freudenstadt, Rottweil, Tuttlingen, Reutlingen und dem Schwarzwald-Baar-Kreis, unterstützt von 183 ehrenamtlichen Richtern. Die Zahl der Eingänge ist in den vergangenen Jahren auf relativ konstantem Niveau geblieben ist, und weit weg vom absoluten Höhepunkt im Jahr 2010. Damals lag sie bei rund 4.000. Grund war, dass die Einführung von Hartz IV damals für viele offene Fragen und Probleme auf allen Ebenen gesorgt hat, blickt Rother zurück. Gerade, wenn die Gesetzeslage neu und kompliziert ist, kommt es gerne zu einer Flut an Klagen – gibt es dann mehrere Urteile, ebbt die Klagewelle wieder ab.

2023 ging es in den meisten Eingaben um Streitigkeiten im Schwerbehindertenrecht, »hier wird oft hart gekämpft,« wissen die Richter. Je nach Grad der Behinderung haben Betroffene verschiedene Vorteile. Diese reichen vom besseren Kündigungsschutz über Mehrurlaub, früheren Renteneintritt bis hin zur Nutzung eines Behindertenparkplatzes oder Ermäßigungen beim Rundfunk oder dem ÖPNV. Knapp dahinter auf Platz zwei der Eingaben ging es um Fragen der Rente und auf Platz 3 um Hartz IV.
Verfahrensdauer: Im Schnitt 12,9 Monate
Oft kritisiert wird die lange Dauer der Verfahren: 12,9 Monate sind es im Schnitt. Dieser lange Zeitraum liegt zum einen an Personalproblemen der Gerichte. Ein weiterer Grund ist, dass viele notwendige Gutachten die Verfahren in die Länge ziehen. Oft braucht man Expertenmeinungen, beispielsweise von Fachärzten, die auch unter Zeitnot leiden. Diese Gutachten verursachen übrigens auch einiges an Kosten, rund eine Million waren es 2023 am Reutlinger Sozialgericht.
Einige Verfahren sind leider die Kehrseite der Medaille »Bürgerfreundlichkeit«, wie die Richter erläutern – darunter oft langwierige und unnötige. Klagen vor dem Sozialgericht sind nämlich kostenfrei, es besteht keine Anwaltspflicht, und das Gericht ermittelt von Amts wegen, wenn jemand eine Klage erreicht. »Wir unterstützen die Kläger, und helfen, damit jeder zu seinem Recht kommt«, sagt Rother. Der Gang vors Sozialgericht soll nicht von der finanziellen Lage abhängig sein, was durchaus seine Richtigkeit hat. Diese niedrige Schwelle, gepaart mit einer zunehmenden Klagebereitschaft, beschert den Gerichten oft Mehrarbeit. Darum könnten sich die Richter eine kleine Vorschussgebühr, die der Kläger im Falle eines Erfolgs zurückbekommt, durchaus vorstellen – allerdings glauben sie nicht, dass so etwas in absehbarer Zeit kommt.
Querulatorisch veranlagte Dauerkläger
Besonders haben Gerichte unter »querulatorisch veranlagten Dauerklägern« zu leiden. Jeder Richter kenne solche Kläger, die Zeit, Geld und Nerven kosten. Was sie wollen, sei oft unklar, sagt Rother. Sie klagen immer wieder, stellen Befangenheitsanträge gegen Richter, reichen Dienstaufsichtsbeschwerden ein, ihre Schreiben umfassen dutzende von DINA4-Seiten, kurz: »Sie verkomplizieren die Verfahren, und das kostet unglaublich viel Mühe und Zeit.« Dabei ist die Klientel bunt gemischt, darunter sind auch Akademiker, die sich beinahe einen Spaß daraus zu machen scheinen, die Gerichte zu beschäftigen, etwa ein Arztehepaar, das Bürgergeld einklagen wollte. »Bei manchen wundert man sich schon«, sagt Deutscher.
Entscheidungen des Sozialgerichts Reutlingen
Wer ist zuständig? Ein Mann starb, als er für einen Verein tätig war. Sowohl die Verwaltungsberufsgenossenschaft als auch die Unfallkasse Baden-Württemberg wollten keine Hinterbliebenenleistung bezahlen. Das Gericht entschied, dass sich der Unfall im Zusammenhang mit der ehrenamtlichen Tätigkeit ereignete und daher die Unfallversicherung zuständig ist.
Muss das Jobcenter ein Sofa abholen? Dieses hatte eine Antragstellerin zuvor beantragt und auch genehmigt bekommen. Sie bemerkte dann, dass es für ihre Wohnung zu groß sei und Flecken habe, deshalb wollte sie es wieder abholen lassen: Das Gericht lehnte dies ab, ebenso wie die beantragte Prozesskostenhilfe.
Krankengeldtrotz Nichtantritt einer stationären Reha? Die Reha war bewilligt, wurde dann aber von der Klägerin nicht angetreten. Daraufhin strich ihr die Krankenkasse das Krankengeld. Dies war nicht rechtens, urteilte das Gericht, denn ein Gutachter habe sich wegen diverser Gründe für eine ambulante Reha ausgesprochen – diese war aufgrund der Corona-Pandemie nicht möglich. Die Krankenkasse musste also weiterhin Krankengeld bezahlen.
Hautstraffungnach Magen-Bypass-OP? Dieser medizinische Eingriff musste in diesem Fall nicht von der Krankenkassen bezahlt werden, was die Klägerin eingefordert hatte mit der Begründung der psychischen Belastung und entzündeter Haut. Der Gutachter betonte, der Wunsch nach einer Hautstraffung sei verständlich, aber medizinisch nicht notwendig.
Privatklinik? Auch die Bezahlung einer Privatklinik muss nicht unbedingt von einer Krankenkasse übernommen werden. Zunächst sollte man die Entscheidung der Kasse abwarten, raten die Richter, sonst kann es sein, dass man auf hohen Kosten sitzen bleibt: Im Falle einer Klägerin auf 15.000 Euro, deren Klage abgewiesen wurde, da ihre angegebenen Gründe den Wechsel in die Privatklinik nicht rechtfertigten. (awe)
Doch zurück zu den Kennzahlen aus dem vergangenen Jahr: In etwa 34 Prozent aller Fälle erledigten sich die Klagen durch eine Zurücknahme, wenn Gutachter und Richter den Klägern aufzeigen können, dass die Rechtslage nicht auf ihrer Seite ist. Auch den anderen Fall gibt es natürlich: In 9 Prozent der Fälle wurden die Beklagten überzeugt, dass sie falsch liegen. Zudem einigten sich die Parteien in neun Prozent der Fälle, in 27 Prozent sprach das Gericht ein Urteil. Von den 664 Entscheidungen waren 361 Urteile und 303 Bescheide des Gerichts. Ebenfalls interessant: Fast 70 Prozent der Kläger unterlagen vor Gericht, 11,75 Prozent siegten, der Rest war nicht eindeutig. »Das ist ein Zeichen, dass unsere Behörden gut arbeiten«, betont Rother. Auch die Arbeit am Reutlinger Gericht ist effizient: So sei die Zahl der anhängigen Verfahren erfreulicherweise seit einigen Jahren am Sinken, lobt Rother. (GEA)