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Aktuell Reutlingen

Von Ecken und Kanten und Dosenbier

REUTLINGEN. Eine »Nahaufnahme« zu machen, den Kandidaten »aufs Maul zu schauen« - GEA-Chefredakteur Christoph Irion hatte ziemlich viel versprochen für eine zweistündige Politshow, die informativ und unterhaltend zugleich sein sollte. Nahaufnahme heißt, die Falten im Gesicht zu sehen, die persönlichen Ecken und Kanten nicht zu verstecken. Kann mit taktisch agierenden Politikern gelingen, was mit offenherzigen Schauspielern nicht selten misslingt? Sind Politiker offen?

Freundlich jedenfalls sind sie, zumindest waren sie es im »franz.K«. Die gegenseitige Vorstellungsrunde war kein erster Schlagabtausch, sondern ein Grundkurs der Manieren, man könnte auch sagen: der Austausch von Zärtlichkeiten. So bescheinigte Christdemokrat Ernst-Reinhard Beck dem Pfarrer und Liberalen Pascal Kober einen »direkten Draht nach oben«, Kober seinerseits lobte Beate Müller-Gemmeke als »intelligent und sexy«. Die Grüne wiederum lud den Linken Stefan Straub zum Überlaufen ins Öko-Lager ein, während Straub beim Sozialdemokraten Sebastian Weigle persönliche Gemeinsamkeiten feststellte: die Mitgliedschaft bei den Naturfreunden. Weigle schließlich nannte den Oberstleutnant Beck einen »Achtundsechziger« - nicht ironisch, sondern einfach nur deshalb, weil dieser 1968 in die CDU eingetreten ist. Wurden künftige Partnerschaften vorbereitet?

Klar, nicht wolkig

Von Elefantenrunden kennt man die Untugend, nicht auf das einzugehen, wonach man gefragt wird, sondern auszuholen, um auf ein anderes Thema zu kommen. Das war im »franz.K« nicht der Fall. Anstatt sich in Allgemeinplätzen zu verlieren, antworteten die Kandidaten direkt und ehrlich, Letzteres zumindest dem Anschein nach. Keine weich gezeichneten Statements, sondern direkte Reaktionen. Das sprach für die neue Offenheit der Kandidaten, erhöhte die Verständlichkeit der Aussagen um hundert Prozent, was wiederum die Gegner im Publikum auf den Plan rief. Wolkiger formulierte Aussagen wären womöglich kommentarlos verpufft.

Ungläubige Gesichter, als Müller-Gemmeke behauptete, regenerative Energien würden »mit keinem Cent« subventioniert. Hörbares Kopfkratzen im Publikum, als Straub verkündete, er könnte sich mit den Kandidaten eine rot-rot-grüne Koalition vorstellen - wenig Widerspruch kam von der Gegenseite.

An Komik, bisweilen an Tragik nicht zu überbieten waren die Kurzfilme, die zwischen den Frageblöcken auf Großleinwand gezeigt wurden. Passanten in der Wilhelmstraße durften sich zur großen Politik äußern. Hier zeigten sich völlig neue Dimensionen: ein »Patrick Lindner« (bayerischer Volksmusikant: »Des is a Wahnsinn«) wurde als Kandidat im Wahlkreis Reutlingen verortet, ein anderes Mal ein »Herr Kalbfell« (vermutlich Carl-Gustav, ursprünglich Reutlinger FDP-Europa-Kandidat).

Das fröhliche Laienspiel deckte sich mit einer Szene kurz nach neun Uhr in den hinteren Reihen des »franz.K«. Ein Mann mittleren Alters fragte seinen Nebensitzer, »welcher jetzt eigentlich bei welcher Partei« sei. Gemeint waren die Kandidaten. Beschlagen oder nicht - durchgängig war die Resignation, was die Glaubwürdigkeit der Politiker betrifft. Von ihnen erwartet wurde im Kurzfilm fast immer: »nichts«. Einmal fiel das Wort »Ehrlichkeit«.

Am Ende verteilte Lokalchef Roland Hauser Geschenke - erfrischend kleine Geschenkkörbchen mit pfiffig-symbolhaften Getränken, die zur frischen Veranstaltung passten. »Red Bull« für den roten Weigle, »Becks«-Bier für Beck, gelben Energietrunk mit »40 Prozent mehr Inhalt« für den gelben Kober, Bionade in den Ampelfarben für die grüne Müller-Gemmeke, und Dosenbier ohne Werbung für den linken Straub - wunderbare Mittel gegen den Durst und Symbole gegen die Politikverdrossenheit.

Wie lautete das Versprechen des GEA-Chefredakteurs gleich noch? Genau: Eine »Nahaufnahme« zu machen. Dieses Experiment scheint geglückt, Ecken, Kanten und Abgründe wurden sichtbar. Bei den erstaunlich offenen Politikern wie auch bei deren Wählern. (GEA)