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Streitwert 3,20 Euro: Trotzdem wird ein Reutlinger Prozess kompliziert

Es geht um eine Kleinigkeit: Schwarzfahren im Stadtbus. Der Streitwert beträgt 3,20 Euro. Warum das Verfahren am Reutlinger Amtsgericht dennoch kompliziert wird.

Das Amtsgericht Reutlingen.
Das Amtsgericht Reutlingen. Foto: Stephan Zenke
Das Amtsgericht Reutlingen.
Foto: Stephan Zenke

REUTLINGEN. Wer beschleunigt, kann schneller ans Ziel kommen - oder aber das genaue Gegenteil erreichen. Vor dem Amtsgericht hat Justitia der Justizministerin jetzt eine Lektion in Sachen Wirklichkeit erteilt. Statt einen Bagatellfall, wie von ganz oben gewünscht, ganz schnell abzuschließen, wird jetzt ein normales Hauptverfahren eröffnet. Denn die Rechtsprechung lässt sich eben nicht beliebig beschleunigen.

Worum es geht, ist eine Kleinigkeit: Schwarzfahren im Stadtbus. Der Streitwert beträgt 3,20 Euro. Dies schien der Staatsanwaltschaft geeignet für das, was Landesjustizministerin Marion Gentges als »beschleunigtes Verfahren« nach dem Paragraphen 417 der Strafprozessordnung gerne häufiger sehen würde. »Durch die beschleunigten Verfahren erfolgt eine schnelle Reaktion des Rechtsstaates. Dadurch wird das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Handlungsfähigkeit des Staates gestärkt. Folgt der Tat die Strafe auf dem Fuße, können Straftätern frühzeitig Grenzen aufgezeigt werden«, sagt Gentges dazu laut einer Pressemitteilung.

Versuch scheitert kläglich

Zulässig ist so ein beschleunigtes Verfahren nach Angaben des Ministeriums »lediglich vor dem Amtsgericht oder dem Schöffengericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft bei einfachen Sachverhalten und einer klaren Beweislage«. Die Staatsanwaltschaft ist ihrerseits weisungsgebunden, muss also letztlich den Wunsch einer Justizministerin nach mehr beschleunigten Verfahren irgendwie in die Tat umsetzen. Wie der Versuch kläglich scheitern kann, hat sich jetzt in Reutlingen gezeigt.

Das beginnt schon damit, das zwischen Tat und Vollgas-Verhandlung mehrere Monate liegen. Erwischt wurde die 60-Jährige Ende Juli in einem Stadtbus der Linie 2 an der Reutlinger Planie. Wochen später wird die Frau ganz zügig mündlich von der Polizei geladen, denn für den Postweg blieb keine Zeit. Sie erscheint erstaunlicherweise tatsächlich vor Gericht, und hört schweigend Staatsanwalt Fauser beim Verlesen der Anklageschrift zu. In der steckt kurioserweise ein kleiner Tippfehler drin, wie Fauser selbst zugibt: Dort wird die Missetat auf den April datiert. Schwamm drüber, zurück zur einsam an der Anklagebank sitzenden Frau.

Keine Begleitung durch Anwalt

Eine anwaltliche Begleitung hat sie nicht, denn das ist im beschleunigten Verfahren nicht vorgesehen. Deswegen ist es auch kein Advokat, der sich unüberhörbar auf Nachfragen von Amtsrichter Eberhard Hausch zu Wort meldet, sondern die Angeklagte selbst. Woraufhin es Beobachtern des Verfahrens etwas mulmig wird. Zunächst beschimpft die geständige Schwarzfahrerin die Reutlinger Stadtverkehrsgesellschaft im Allgemeinen. Dann beklagt sie sich über steigende Fahrpreise, »das finde ich nicht in Ordnung«. Anschließend wird sie bei der Beschreibung ihrer Lebensumstände immer lauter. Normal ist ihr Verhalten keinesfalls.

»Auf mich sind Menschen angesetzt«, schreit sie in Richtung Richterbank, »die Polizei weigert sich, mir zu helfen«. Finanziell gehe es ihr auch schlecht, »das ist jetzt schon der dritte Monat, wo ich kein Geld vom Arbeitsamt bekomme«. Hausch ist so nett sich anschreien zu lassen, weil die Aktenlage eine Menge trauriger Fakten zur Angeklagten enthält, was für das beschleunigte Verfahren wie eine Vollbremsung wirkt.

Vorbestrafte Alkoholikerin

Die Angeklagte ist eine einschlägig vorbestrafte Alkoholikerin, das Schwarzfahren nur das saure Sahnehäubchen auf zahlreichen Fällen von Betrug, Widerstand gegen Vollzugsbeamte oder Diebstahl. Sie hat bereits mehrere Haftstrafen abgesessen, weil sie Geldstrafen nicht bezahlen konnte. Hausch verliest auch die bereits vor Jahren von Fachleuten der Reutlinger Fachklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik erstellte Diagnose, nach der die Frau unter »massiven psychiatrischen Störungen« leide. Jetzt hat's ein Ende mit dem beschleunigten Verfahren.

Denn der Richter möchte geklärt wissen, ob die Schwarzfahrerin möglicherweise durch ihre Erkrankung schuldunfähig gewesen ist. Dies erfordert die Expertise eines Psychiaters, der als Sachverständiger hinzugezogen werden soll - was in der beschleunigten Variante nicht vorgesehen ist. Nach einer halben Stunde endet die juristische Fahrt auf der Beschleunigungsspur mit einer Vollbremsung. Fast schon Nebensache, dass der eine vielleicht zu kurzfristig geladene Zeuge durch Abwesenheit glänzt. Amtsrichter Eberhard Hausch lehnt eine Entscheidung im beschleunigten Verfahren ab, ordnet der Angeklagten einen Pflichtverteidiger zu - und vertagt den Fall auf einen noch zu findenden Verhandlungstermin in der Zukunft. Sein Schlusswort lautet: »Heute machen wir garnix«. (GEA)