REUTLINGEN. Von kleinen Ruheinseln in der Innenstadt bis hin zu Naherholungsgebieten: In der derzeit laufenden dritten Fortschreibung des Lärmaktionsplans für Reutlingen muss die Stadt erstmals auch »ruhige Gebiete« festlegen. Damit gilt es, nicht mehr nur den Lärm-Istzustand zu kartieren, sondern auch Bereiche auszuwählen, die die Stadt in Zukunft vor Dezibelzuwachs schützen will. Etliche Städte haben das bisher freiwillige Instrument bereits angewendet. Reutlingen hat auf die Verpflichtung gewartet.
Bürger besser informieren
»Vorsorge statt Pflaster«: Die Bürgerinitiative »Keine Dietwegtrasse« begrüßt laut Andreas Frosch ein interessantes neues »Instrument der Stadtgestaltung«. Doch sieht die BI das Novum vonseiten der Verwaltung bisher noch zu wenig ins Bewusstsein gerückt. Was man schade findet: Sind doch die Bürger derzeit aufgerufen, sich an der Befragung zur Lärmaktionsplanung für das Reutlinger Straßennetz zu beteiligen. Ziel ist, so heißt es auf der städtischen Internetseite im Vorspann zur Befragung, »die Belastung durch Straßenverkehrslärm zu senken und damit die Lebensqualität zu verbessern«. Am Ende des Fragebogens sind die Bürger unter dem Stichwort »ruhige Gebiete« auch aufgefordert, anzugeben, ob ihnen die Ausweisung solcher Zonen wichtig ist und welche – öffentlich zugänglichen – Orte sie vorschlagen. Als Beispiele sind Stadtgarten, Pomologie und Markwasen genannt.
Insbesondere die Innenstädte seien »von einer hohen Lärmbelastung geprägt«, heißt es zur Erklärung. Es sei daher »von hoher Relevanz, auch den Menschen in der Innenstadt Orte der Ruhe in fußläufiger Entfernung zu bieten, in denen sie vom Stress des Alltags abschalten können, und diese Orte vor einer Zunahme des Lärms zu schützen«.
EU-Umgebungslärmrichtlinie
Die EU-Umgebungslärmrichtlinie (ULR) und die entsprechenden Vorschriften im Bundes-Immissionsschutzgesetz verpflichten Städte und Gemeinden, sich in den Lärmaktionsplänen nicht nur Belastungen zuzuwenden, die sich bereits zu Problemen entwickelt haben. Künftig sollen »ruhige Gebiete« vor einer Zunahme des Lärms geschützt werden. Dazu muss laut baden-württembergischem Verkehrsministerium im Gebiet »objektiv ein Mindestmaß an Ruhe vorhanden sein«. Den Gemeinden stehe dabei »Beurteilungsspielraum« zu. Konkrete Vorgaben hinsichtlich Lärmgrenzwert, Größe oder naturräumlicher Ausstattung bestünden nicht. Wegen der bloß »rudimentären« gesetzlichen Vorgaben könnten die Gemeinden eigene Kriterien für die Auswahl anwenden und angepasste Lösungen für ihre Bedürfnisse finden. Im »Leitfaden« des Ministeriums schreibt der Landeslärmschutzbeauftragte Thomas Marwein, dass sich bisher nur ein kleiner Teil der Städte intensiv mit der Planung solcher Gebiete auseinandergesetzt habe. Ein Hauptgrund sind seiner Mutmaßung nach die gesetzlichen Vorgaben, die nur wenige Anhaltspunkte lieferten, wie der Schutz der Gebiete konkret gelingen könne und welche Rechtsfolgen die Festsetzung mit sich bringe. (GEA)
»Zu versteckt« das Thema und auch die Hintergründe zu wenig ausführlich erklärt: Für die BI kommen die ruhigen Gebiete in der Online-Umfrage zu kurz. Auch in einer städtischen Pressekonferenz zur Umfrage wurde die Neuerung jüngst nicht ins Rampenlicht gerückt.
Bislang sind die Vorgaben allerdings mehr als dehnbar (siehe Infobox). Etliche Städte haben sich bereits auf den Weg gemacht und jede findet andere Ansatzpunkte. Die vagen Vorgaben sind Fluch und Segen zugleich. Sie bieten Freiräume, verlangen aber auch intensivere Beschäftigung von den Verwaltungen, die allerorten mit Personalmangel kämpfen. »Es hängt am Wollen der Kommune, damit zu gestalten«, kommentiert Andreas Frosch die Lage.
Die Dietweg-Trassengegner sind im Hintergrund rührig. Mit dem Thema ruhige Gebiete waren Frosch und sein BI-Mitstreiter Dr. Stefan Oberhoff bei den Reutlinger Gemeinderatsfraktionen zu Gast. Man sei bei fast allen auf aufmerksame Ohren gestoßen, so Froschs Wahrnehmung.
Sehr wichtiges Instrument – vor allem für die Innenstadtbewohner
Die SPD-Fraktion hat in der Folge eine Anfrage an die Verwaltung gestellt. Grüne und Linke nahmen die Impulse der BI zum Anlass, Ende März einen Antrag zu stellen, in dem sie bereits eine Reihe von Gebieten vorgeschlagen haben: Friedhof Römerschanze (gegebenenfalls mit weiteren angrenzenden Gebieten), Rappertshofen, Gebiet Orscheläcker/Dietweg, Sondelfingen, Gebiet Bergäcker-Halden, Friedhof unter den Linden, Volkspark/Pomologie, Freizeitgelände Markwasen, Oststadt und Stadtgarten sind genannt. Im Mai-Bauausschuss wurde jedoch lediglich die SPD-Anfrage behandelt, der grün-linke Antrag geriet im Rathaus aus nicht zu erkundenden Gründen unter die Räder.
Die Bürgerinitiative rät, zum Einstieg in die ruhige-Zonen-Planung »unstrittige Gebiete« aufzunehmen, hofft aber auch auf neue Chancen für die Verhinderung ihres Kernanliegens, der Dietwegtrasse – eines durchaus strittigen Themas. Die Planungen waren vor einigen Jahren in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans geraten. Zuletzt ist es jedoch wieder auffallend ruhig geworden um das Projekt Umgehungsstraße.
So verbindlich wie möglich machen
Der Leiter der städtischen Verkehrsabteilung sieht noch nicht, dass eine neue Schutzkategorie neue Argumente gegen den Straßenneubau liefert. »Da wird das Tübinger Regierungspräsidium Einspruch erheben«, mutmaßt Gerhard Lude. Die ruhigen Gebiete sieht indes auch er als »sehr wichtiges Instrument – vor allem für die Innenstadtbewohner«.
Dass Reutlingen gewartet hat, bis die Ruhezonen Zwang werden, begründet er mit Überlastung. »Wir haben zu viel zu tun.« Er räumt auch ein, dass die Bürgerinformation zum Thema bisher mager ausfiel. Im September soll es nun im öffentlichen Bauausschuss auf die Tagesordnung gesetzt werden.
Es gebe jedoch auch intern noch viel zu besprechen, darunter zentrale Fragen, wie: Werden die neuen Schutzzonen im Flächennutzungsplan ausgewiesen oder werden sie im Bebauungsplan festgelegt, wo sie eine ganz andere Verbindlichkeit entfalten würden? Lude hegt Sympathie dafür, die Ruhebereiche »so verbindlich wie möglich zu machen«. Dies bedürfe aber der Abstimmung mit anderen Abteilungen wie dem Planungsamt. Friedhöfe, Parks, Gebiete am Ortsrand sind für Lude potenzielle Kandidaten.
Jeder kann mitmachen: Umfrage läuft bis mindestens Ende September
Temporeduktion, Schallschutzwälle, Verkehrsreduktion, lärmreduzierende Straßenbeläge: Mit der dritten Fortschreibung des Lärmaktionsplans packt die Verwaltung wieder ihr Stadtberuhigungs-Instumentarium aus. Die neue EU-einheitliche Lärmberechnungsmethode CNOSSOS (der GEA berichtete) könnte dabei allerdings zunächst für Irritation sorgen. Die Anzahl der Lärmbetroffenen wird trotz der Lärm reduzierenden Maßnahmen der Vergangenheit sehr viel höher als zuvor ausfallen. Dabei seien die neuen Ergebnisse aber nicht mit den vorangegangenen zu vergleichen, betont die Stadt schon jetzt.
Bis (mindestens) Ende September können die Bürger mitreden: Über 500 Interessierte habe die Umfrage auf der städtischen Internetseite laut Amt angeschaut, doch nur gut 200 haben die Fragen bisher komplett beantwortet. (GEA)
https://survey.lamapoll.de/Laermaktionsplan-3.Fortschreibung