REUTLINGEN. Es ist der Horror für alle Eltern: Das Kind erkrankt an einer schweren Hirnhautentzündung, an Diabetes oder hat einen Unfall und muss für mehrere Wochen in die Klinik. Wenn die akute Phase überstanden ist, steht die Entlassung bevor - doch keinesfalls bedeutet dies, dass der kleine Patient dann komplett genesen ist und das Leben seinen geregelten Gang nimmt. Ganz im Gegenteil ist es oft so, dass die Kinder auf viel Hilfe angewiesen sind. So müssen sie beispielsweise zusätzlich über eine Sonde ernährt werden oder sie sind an Geräte angeschlossen, die den Blutdruck oder den Herzschlag überwachen. Die Eltern müssen Medikamente geben oder Verbände wechseln. Außerdem gilt es, den Alltag neu zu ordnen, die Kinder brauchen Physiotherapie, Logopädie oder anderes. Viele fühlen sich diesen enormen Herausforderungen kaum gewachsen. Sie wissen nicht, wo sie welche Hilfe bekommen und was das Beste für das Kind ist.
In den Reutlinger Kreiskliniken kennt man diese Problematik und bietet deshalb seit rund einem Jahr eine Nachsorge nach dem Modell des »Bunten Kreis« an. Diese Nachsorge unterstützt die Familien beim Übergang vom Krankenhaus ins eigene Heim. »Im April vergangenen Jahres konnten wir in Kooperation mit dem Klinikum Esslingen einen «Bunten Kreis» an unserer Kinderklinik einrichten,« berichten Chefarzt Professor Peter Freisinger und Nina Starzmann, die Standortleitung in Reutlingen. »Wir bieten seitdem sozialmedizinische Nachsorge nach diesem Konzept an«, erklärt Starzmann. Der sozialmedizinische Dienst nimmt bereits in der Klinik Kontakt zu den Familien auf, um den möglichen Bedarf zu ermitteln und sich einen Überblick zu verschaffen.
Der Bunte Kreis
Der »Bunte Kreis« wurde vor mehr als 30 Jahren in Augsburg gegründet, um Familien mit chronisch, krebs- oder schwerstkranken Kindern und deren Familien zur Seite zu stehen. Familien schwer kranker oder zu früh geborener Kinder sind stark belastet.
In dieser schwierigen Zeit begleitet der »Bunte Kreis« die Familie im Übergang von der Klinik nach Hause und während der ersten drei Monate. Ein multiprofessionelles Team bestehend aus einer Case Managerin, Sozialpädagogin und Ärztin deckt die notwendigen Fragestellungen ab. Auch die Möglichkeit psychologischer und seelsorgerischer Hilfe ist vorhanden.
Bereits während des stationären Aufenthalts nehmen die Klinikmitarbeiter Kontakt zu nachsorgeberechtigten Familien auf, ermitteln deren Bedarf und stellen den Antrag auf sozialmedizinische Nachsorge bei der Krankenkasse. Wird dieser genehmigt, übernimmt die Kasse die Kosten. Der Bunte Kreis klärt die Familien über mögliche Hilfen auf, vernetzt sie mit den entsprechenden Anbietern und koordiniert erforderliche Termine, hierzu existiert ein Netzwerk an Kooperationspartnern. (GEA)
Die Mitarbeiter verstehen sich als eine Art »Brückenbauer«, sagt Starzmann - vom Krankenhaus, in dem das medizinische Personal sich um alles kümmert in die Selbstständigkeit daheim. Es geht bei diesem Angebot nämlich vor allem darum, die Eltern beim Zurechtfinden in der neuen Situation zu unterstützen und sie an entsprechende Spezialisten zu vermitteln. »Wir setzen uns mit den Familien zusammen und schauen, was sie brauchen«, erklärt Starzmann. Für 20 Stunden dieser Hilfe übernimmt die Krankenkasse die Kosten. Und die Kassen profitieren ebenfalls davon. Denn Untersuchungen belegen, dass an Kliniken mit diesem Angebot die kleinen Patienten seltener wieder eingewiesen werden.
Nicht alle kommen alleine klar
Für die Eltern ist es eine ungemeine Erleichterung, wenn ihnen jemand sagt, wo sie Hilfe bekommen und wenn sie jemanden an der Seite haben, der sich auskennt. »Nicht alle sind stark genug, um mit der Situation alleine klarzukommen«, weiß Anja Molfenter aus Erfahrung. Sie ist die Gesamtleiterin des »Bunten Kreises« Esslingen, der neben der Klinik in Göppingen seit einem Jahr auch mit den Reutlinger Kliniken eine Kooperation eingegangen ist und der die beiden Filialen unterstützt.
Die Idee, ein solches Angebot auch in Reutlingen zu etablieren, gebe es schon länger, berichtet Professor Freisinger, vor einem Jahr konnte sie mit dem erfahrenen Partner endlich realisiert werden. Vom Frühchenverein gibt es seit vielen Jahren Unterstützung für die Frühgeborenen, aber sie sind eben nicht die einzigen, die Hilfe brauchen. Viele Kinder erkranken im Laufe ihres Lebens und sind dann auf Unterstützung angewiesen. Daher richtet sich das Angebot des »Bunten Kreises« an Kinder und Jugendliche zwischen null und 14, in Ausnahmefällen sogar bis 16 Jahren, nicht nur an die jüngsten Patienten.
20 Familien im ersten Jahr
Die Nachfrage war gleich zu Beginn groß: »Im ersten dreiviertel Jahr haben wir 20 Familien unterstützt«, blickt Starzmann zurück. Angestrebt ist, dass man in den kommenden Jahren 50 bis 60 Patienten jährlich betreuen kann, so wird auch der Bedarf eingeschätzt für den kompletten Landkreis. Allerdings würde sich der »Bunte Kreis« weitere finanzielle Unterstützung wünschen, um die Aufgaben stemmen zu können. So wäre ein Dienstfahrzeug ein großer Wunsch - bislang fahren die Mitarbeiter mit ihren Privat-Fahrzeugen zu den Einsätzen. Außerdem reichen manchmal die genehmigten Stunden nicht aus, »dann besuchen wir die Familien trotzdem weiterhin«, sagt Starzmann, »wir lassen niemanden im Stich, sondern gehen weiter hin, bis wir wissen, sie kommen klar«. Dieses »Finanzierungsdelta« muss durch Spenden geschlossen werden. Die Verantwortlichen sind zuversichtlich, dass sie weitere Unterstützer finden werden. Noch sei man ja eine ganz junge Einrichtung, deren Existenz sich erst mal herumsprechen muss. (GEA)