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So gut war die Reutlinger Wilhelmstraße einst besucht

In den 1970er-Jahren war Reutlingen eine gefragte Einkaufsstadt, die sogar Kundschaft aus Stuttgart anlockte. Damals war die Warenwelt vielseitiger und bunter als heute: auch deshalb, weil es kaum Filialisten gab, sondern überwiegend inhabergeführten Einzelhandel.

Ein ganz normaler Einkaufssamstag Anfang der 1980er-Jahre: Kurz vor 12 Uhr mittags gab es in der unteren Wilhelmstraße fast kein
Ein ganz normaler Einkaufssamstag Anfang der 1980er-Jahre: Kurz vor 12 Uhr mittags gab es in der unteren Wilhelmstraße fast kein Durchkommen mehr. Foto: Ulbricht
Ein ganz normaler Einkaufssamstag Anfang der 1980er-Jahre: Kurz vor 12 Uhr mittags gab es in der unteren Wilhelmstraße fast kein Durchkommen mehr.
Foto: Ulbricht

REUTLINGEN. Seit’ an Seit’ mit Inge Kehrer-Gmelin durch die Wilhelmstraße zu flanieren, ist eine zeitgeschichtlich höchst spannende Unternehmung und kommt einem kurzweiligen Schaufensterbummel in die Vergangenheit Reutlingens gleich. Kennt die inzwischen 76-Jährige die Fußgängerzone mit ihren Seitenarmen und -ärmchen doch aus dem Effeff.

»Da drüben, hinter der Bäckerei Berger« hatte ihr Vater einst seine Schreinerwerkstatt betrieben, die dem benachbarten Bäckermeister immer mal wieder als Brotdepot diente. »Dann hing da der köstliche Duft ofenfrischer Backwaren in der Luft«, erinnert sich Kehrer-Gmelin an die ausgehenden Fünfziger-, beginnenden Sechzigerjahre, da eine Straßenbahn durch die Innenstadt rollte, der Einzelhandel von Paketboten der Spedition Hasenauer per Pferdefuhrwerk beliefert wurde und die gebürtige Tübingerin mit ihrer Familie in die Achalmstadt gezogen war.

»Dann hing da der Duft ofenfrischer Backwaren in der Luft«

Hier besuchte sie die Schule, hier absolvierte sie ihre Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau, hier war sie über Jahrzehnte im Verkauf tätig – nach einigen Arbeitgeberwechseln zuletzt und bis zu ihrem Ruhestand bei »Lukaszewitz«. Weshalb Inge Kehrer-Gmelin wie kaum eine Zweite den innerstädtischen Wandel hautnah miterlebt hat.

Ganz nah dran war sie zeit ihres Berufslebens an der örtlichen Geschäftswelt und deren Kundschaft, hat Reutlingens Blütezeit als Einkaufsstadt ebenso erlebt, wie deren allmähliches Welken seit Beginn der Neunziger. »Früher«, so die Seniorin, »war die Produktpalette vielfältiger, waren die Läden spezialisierter«. Mit früher sind schwerpunktmäßig die 1970er-Jahre gemeint. Denn auf diese Dekade fokussiert sich der nostalgische Spaziergang mit Startpunkt Albtorplatz.

Dort, wo heute »Sakin« frisches Obst- und Gemüse feilbietet, hatte einst die Dresdner Bank eine Dependance – und zwar direkt neben der Metzgerei Reicherter (später Zeeb-Filiale, jetzt Leerstand). Einen Spielwarenladen gab es am Albtorplatz und einen Optiker. Und im Gebäude Wilhelmstraße 131, in dem heute unter anderem der Outdoor-Sportartikler Vaude angesiedelt ist, tummelte sich ein internationales Publikum: Die 131 war nämlich ein Hotel mit dem verheißungsvollen Namen »Harmonie«. Außerdem war sie ein Dorado für Freunde klassischen Paartanzes, die dortselbst übers Parkett schwebten. Derweil Nicht-Tänzer auf der hoteleigenen Kegelbahn eine ruhige Kugel schieben konnten.

»Vormals gab es kaum Filialisten, weshalb die Warenwelt exklusiver und spzialisierter war«

»Weckle« und »Laufsemmeln« – mit ihnen, heißt es, sei die Wilhelmstraße schon immer gepflastert gewesen. Was von Inge Kehrer-Gmelin bestätigt wird. Jedoch: Vormals gab es keine Filialisten, die Schuhe und Backwaren anboten. Weshalb das Sortiment weniger austauschbar war, sondern »exklusiver und spezialisierter«, wie die 76-Jährige sagt. Ach ja, und Handy-Shops, die im Herzen Reutlingens ebenfalls starke Präsenz zeigen? Die gab es in den Siebzigern natürlich noch nicht. Denn die schossen erst ab 1998 wie Pilze aus dem Boden.

Na, klingelt’s bei dieser Jahreszahl? Nicht? Kein Wunder. 1998 klingelte es nämlich bei vielen Reutlingern nicht, weil durch den Brand einer Telekom-Vermittlungsstelle die Festnetz-Telefone in der Achalmstadt über Wochen stumm blieben. Statt ihrer erlebten Mobilgeräte einen regelrechten Boom und Reutlingen avancierte quasi über Nacht zur Stadt mit der bundesweit größten Handydichte.

Reutlingen-Kennerin Inge Kehrer-Gmelin (links) und GEA-Redakteurin Heike Krüger beim Schaufensterbummel ins Vorvorgestern.
Reutlingen-Kennerin Inge Kehrer-Gmelin (links) und GEA-Redakteurin Heike Krüger beim Schaufensterbummel ins Vorvorgestern. Foto: Frank Pieth
Reutlingen-Kennerin Inge Kehrer-Gmelin (links) und GEA-Redakteurin Heike Krüger beim Schaufensterbummel ins Vorvorgestern.
Foto: Frank Pieth

In tausendfacher Stückzahl von der Telekom unters Volk gebracht, überzeugten die »digitalen Notnägel« offenbar ihre Nutzer. Selbst Skeptiker trennten sich nach Ende der festnetzlosen Zeit nur ungern von ihren mobilen Begleitern und mutierten von Ausleihern zu Eigentümern.

Klar, dass dieser Konsum-Trend von den Anbietern erkannt wurde: Alle wollten sie plötzlich an der Echaz Flagge zeigen und mieteten sich in Geschäftsräume ein, die vordem gänzlich andere Händler bewirtschaftet hatten – unter anderem »Leder Schweitzer« und »Eisen Zschaler«, die ebenso aus dem Stadtbild verschwunden sind wie ein Bürstenladen, ein Herrenausstatter und ein Hutgeschäft, die einst in der Oberen Wilhelmstraße die geneigte Kundschaft bedienten.

»Geschliffenes Glas und auch Gegenstände aus Zinn waren damals Thema«

Das heute der Bio-Vollkornbäckerei angeschlossene Café Berger mit der Hausnummer 127, entsinnt sich Inge Kehrer-Gmelin »war früher ein Reformhaus«, das Reisebüro beim Lindenbrunnen eine Metzgerei und dort, wo jetzt das Asia-Restaurant »Takashi« zu finden ist, also in der Wilhelmstraße 122, wanderten einst Kuchen und Torten über die Theke. Genau! An dieser Stelle befand sich das Café Finckh. Während im heutigen Gastro-Betrieb »Vis-à-Vis« ehemals Trachtenmoden an den Mann und die Frau gebracht wurden.

Lebensläufig ist das Haus Wilhelmstraße 92 für Inge Kehrer-Gmelin bedeutsam. Direkt neben einer Eisenwarenhandlung (inzwischen Spielothek) gelegen, hat die 76-Jährige hier ihre Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau absolviert. »Eigentlich wollte ich ja Dekorateurin werden«, verrät sie. Doch dieser Beruf war damals fest in Männerhand und Lehrstellen außerdem dünn gesät. Deshalb also die Alternative Einzelhandel. Und zwar nicht irgendwo, sondern im Werkhaus Hugo Hummel, das hochwertiges Kunsthandwerk – insbesondere aus Finnland und Schweden – feilbot. »Geschliffenes Glas und auch Zinn waren damals Thema«, so Kehrer-Gmelin, die Reutlingens Hautevolee zu ihren Stammkunden zählte.

Zwar neigten die Reichen und mehr oder weniger Schönen der Achalmstadt von je her dazu, nicht am Platze zu kaufen, sondern lieber – »sogar für Friseur-Besuche« – nach Stuttgart auszuweichen. Im Werkhaus Hummel gaben sie sich indes trotzdem die Klinke in die Hand. Nicht zuletzt während der Adventszeit, wenn es darum ging, ausgefallene Weihnachtsgeschenke zu erwerben; oder solche für verdiente Arbeitsjubilare.

Kein Zweifel: Die Warenwelt der 1970er-Jahre war bunt und divers. Shisha-Anbieter oder Restpostenmärkte gab es damals zwar nicht, dafür aber Kurz- und Miederwarengeschäfte, Lederhändler, Unterhaltungselektroniker, Herren- und Damenausstatter, zwei reine Uhrenfachgeschäfte, eine Zoohandlung und eine Singer-Nähmaschinen-Filiale. Sogar ein Samenhändler, »der Stiedler«, mit der Hausnummer 31 und Spielwaren Panne mit der Nummer 29 waren vertreten, und – neben mehreren Juwelieren – auch das für Haushaltswaren aller Art bekannte Listhaus (Wilhelmstraße 64) sowie aus heutiger Sicht durchaus kurios anmutende Geschäfte wie die »Schirm- und Stock-« oder die »Stempelfabrik«.

Im Café Weigold (Wilhelmstraße 25 bis 27, heute Schuhhaus Werdich) ließen es sich die Reutlinger gut gehen. Und wer zur rührigen Künstlerszene um HAP Grieshaber gehörte, der schlückelte seine koffeinhaltigen Heißgetränke im vormals höchst angesagten Café Lippert.

»Die Warenwelt war in den Siebzigern deutlich bunter und diverser«

Ja, lang ist's her. War's früher aber tatsächlich besser? In wenigstens einem Punkt schon: der Lebensmittelversorgung. Vom preiswerten Discounter bis zum Delikatessengeschäft gab es für jeden Geldbeutel mindestens einen passenden Nahversorger. Denn die Innenstadt plus Weibermarkt zählte sage und schreibe sechs Lebensmittler – von Feinkost Böhm und Astfalk über Allfrisch und Kaiser’s Kaffeegeschäft bis hin zu Aldi und der Lebensmittelabteilung des damaligen Horten (später Galeria Kaufhof, jetzt Leerstand). Nicht zu vergessen die beiden etwas außerhalb gelegenen Filialen von Lidl am Bahnhof und EZA (Media Markt).

Bemerkenswert: Niemand, so Inge Kehrer-Gmelin, forderte damals ein, bequem mit dem eigenen Auto bis fast vor die Ladentüren fahren zu dürfen. Stattdessen ging man – auch weil teilweise noch unmotorisiert – ganz selbstverständlich zu Fuß: den Korb in der Armbeuge oder den Hackenporsche im Schlepp.

Ein solches Hinterherzieh-Kärrle nannte übrigens auch die junge Kehrer-Gmelin ihr Eigen. Stolz wie Bolle war sie auf das ebenso nützliche wie formschöne Teil, das aus Bambus gefertigt war und die Blicke auf sich zog – zu einer Zeit, als die Kundschaft zuhauf von der Alb, aus Tübingen und Metzingen, ja, sogar aus Stuttgart nach Reutlingen strömte, um in die kunterbunte Warenwelt der Achalmstadt einzutauchen. (GEA)