REUTLINGEN/TÜBINGEN. Für die einen sind sie ein Ärgernis, das kostspielig beseitigt oder am besten verhindert werden sollte. Für die anderen Streetart, Ausdrucksform, Kunst schlechthin: Illegale Graffiti und Tags, also Signaturen mit denen sich Sprayer allerorten verewigen, aber auch Kleber und wildes Plakatieren verschandeln zunehmend nicht nur Großstädte.
In Reutlingen und Tübingen gehen die Verwaltungen unterschiedliche Wege, um dem Problem Herr zu werden. Bei einer Podiumsdiskussion am Mittwochabend im Reutlinger Spitalhofsaal stellten die beiden Oberbürgermeister Thomas Keck und Boris Palmer ihre Ansätze vor.
Mit auf dem Podium, dessen Idee im Reutlinger Ordnungsamt geboren wurde, saßen Jaron, ein Vertreter des Jugendgemeinderats und der Klimabewegung »Fridays for Future«, und Robin, ein Sprecher von »Kulturschock Zelle« und Rosa (Reutlingen for Solidarity, Organisation und Action) und damit ein Vertreter des linken Reutlinger Jugendspektrums. Der Reutlinger Filmemacher und Comedian Dominik »Dodokay« Kuhn war als prominenter Bürger, »dem die Stadt am Herzen liegt«, geladen und changierte irgendwo zwischen den beiden Welten, die sich auf dem Podium auftaten.
»Der öffentliche Raum gehört jedem, jeder hat ein Mitgestaltungsrecht«
Kathrin Kammerer, Lokal/Regionalchefin des Reutlinger General-Anzeigers, stellte die Initialfragen für die muntere Debatte und hatte die anspruchsvolle Aufgabe, die bunte Herrenriege zu moderieren. Auch in der anschließenden Fragestunde waren ihre Vermittlungskünste reichlich gefragt.
OB Thomas Keck berichtete, dass die Reutlinger die Strategie geändert haben und nun den Dialog mit den Sprayern suchen. Das Podium war ein Auftakt, um auch öffentlich ins Gespräch zu kommen. Der bisherige Weg Strafverfolgung und Belohnung für Meldungen zeitigte bisher keine Wirkung. Die ausgesetzte Belohnung von 500 Euro für einen überführten Sachbeschädiger sei bisher nur zweimal bezahlt worden.
Boris Palmer watschte den Reutlinger Amtskollegen erst mal ab, was den Inhalt der gemeinsamen Abendgestaltung betraf. »Ich hätte mir ein größeres Thema ausgesucht.« Er beschäftige sich nicht den ganzen Tag mit Graffitis. Gleichwohl ist der Tübinger ein eifriger Bekämpfer eines Unwesens, das die Unistadt erheblich verunziert und insbesondere auf den denkmalgeschützten Häusern aufwendig und kostspielig beseitigt werden muss.
»Das sind keine Ansprechpartner, das sind Chaoten«
Wer einen Sprayer verpfeift, der dann auch verurteilt wird, darf sich in Tübingen über 5.000 Euro freuen. Auch hier fruchtet die Belohnung nicht. Aktuell gibt es einen einzigen Fall, der die Kriterien erfüllen könnte. Die Tübinger Strategie heißt daher: übermalen, so schnell es geht, damit den Sprayern die Lust vergeht.
Dialog sucht Palmer nicht. »Das sind keine Ansprechpartner, das sind Chaoten.« Seine Zielgruppe sind insbesondere die Tag-Sprayer. Es gebe ein paar Gruppen in Tübingen, die die immer gleichen Buchstaben – teils mittels Schablone – über die Stadt verteilen. »Wir wissen, wer das ist, aber die stehen nicht dazu«, sagte Palmer: Jungs unter 30, keine besondere Schicht (auch Gutsituierte dabei), die sich als coole Helden fühlen, wenn sie Verbotenes tun. Der OB diagnostiziert »Imponiergehabe und eine Form von Männlichkeit, die es seit dem Mittelalter gibt«. Da hilft nur eins. »Schnell überstreichen.« Dialogbereitschaft sei ohnehin fehl am Platze: »Die reden gar nicht mit uns.«
Die Szene habe sich über Jahre entwickelt, die Gesellschaft habe weggeschaut und getragen von »sozialpädagogischer Verständnisduselei diskutiert, ob das nun Kunst ist oder nicht«, ätzte der OB. Dabei handele es sich lediglich um eine »Respektlosigkeit« gegenüber fremdem Eigentum und Sachen gegenüber, die andere gern anschauen. »Ich will den Scheiß nicht sehen«, wetterte der Tübinger unter geteiltem Applaus.
Nun möchte Boris Palmer sogar eine Vollzeit-Graffitiwegmal-Stelle schaffen, die auch die privaten Immobilen in der Altstadt streicht. Bisher müssen sich Besitzer selbst um die Schadensbeseitigung kümmern und bekommen die Kosten ersetzt. Danach müssten sie den Schaden nur noch melden, die Stadt würde das Entfernen übernehmen.
Dass es sich bei der illegalen »Streetart« – auch laut Kriminalstatistik – um ein vornehmlich männliches Phänomen handeln soll, ging den beiden jungen Männern auf dem Podest so gar nicht runter. Man witterte Diskriminierung. »Ich glaube das nicht«, sagte der 17-jährige Jaron. Außerdem sei es für die Debatte »nicht relevant«. Robin sieht die Sprayer als »Abbild der Gesellschaft.« Dodokay vermittelte elegant in einer von Ausuferung bedrohten Geschlechterdebatte: Männer seien eben diesbezüglich blöder als Frauen und ließen sich eher erwischen.
Das illegale Verschönern (oder Beschmieren je nach Sichtweise) von Privathäusern finden die Jugendvertreter nicht gut. Anders sieht es mit dem öffentlichen Raum aus. »Der gehört«, so verkündete der 27-jährige Robin, »jedem. Alle haben ein Mitgestaltungsrecht, auch die kein Geld haben.«
Mehrfach fand das Gerberviertel Erwähnung, das in Reutlingen besonders verschandelt ist. Jaron monierte leerstehende Häuser, verbarrikadierte Fenster: Je niedriger die Aufenthaltsqualität, desto mehr Graffitis, so seine Faustformel. Die Graffiti seien nicht Ursache der Verwahrlosung, sondern eine Folge.
Beide finden, dass es in Reutlingen »keinen Raum« gebe für Jugendliche. Zumindest keinen mit Aufenthaltsqualität. »Mehr Grünflächen statt Betonwüsten wie den Bürgerpark«, wünscht sich Jaron.
Die jungen Leute kritisierten auch, dass es kaum legale Spray-Flächen in der Stadt gibt. Sie sollten an präsenter Stelle sein. Die Sprayer wollten »in Dialog treten, gesehen werden«.
»Wer in die Altstadt zieht, zieht nicht an den Waldrand«
Warum nimmt die Wandbemalerei so zu? Zelle-Sprecher Robin versuchte sich an einer Erklärung. Subkultur, die früher in Reutlingen etwa am Bermudadreieck Raum gefunden habe, sei »zerstört« worden. Auch der Gaststättenkonzession-streit, der seinerzeit Stadt und Zelle gegeneinander aufbrachte, habe »immensen Schaden« angerichtet. Es gebe keine größeren Veranstaltungen mehr. Was übrig geblieben sei von der Subkultur, seien die Graffiti.
Gegen Belebung der etwas eingeschlafenen Altstadt hat auch OB Keck nichts. (»Wer in die Altstadt zieht, zieht nicht an den Waldrand.«) Die Wohnungen in den Obergeschossen der Altstadthäuser über den Ladengeschäften sähe er gern von jungen Leuten, Azubis, Studenten bewohnt, berichtete er. Aber das gestalte sich schwierig. Immerhin habe man die Außenbewirtschaftung seit Corona »drastisch ausgeweitet«.
ZAHLEN DER POLIZEI
2018 wurden in Reutlingen 92 Fälle von Sachbeschädigung erfasst, 2021 waren es schon 159. Für 2022 sind die Zahlen noch nicht amtlich. Die Polizei erwartet aber ein »Fünfjahreshoch«. 224 Fälle wurden in Tübingen 2021 erfasst. Auch hier geht man von einer deutlichen Steigerung aus, die aber unter dem bisherigen Höchstwert 314 im Jahr 2020 liegt. In beiden Städten sind die Tatverdächtigen überwiegend männliche Erwachsene (über 21 Jahre). Sachbeschädigung (§ 303 Strafgesetzbuch) ist mit Freiheitsstrafe (bis zu zwei Jahre) oder Geldstrafe bewehrt. (GEA)
Robin erregte sich über die 5.000 Euro Belohnung in Tübingen: Denunziantentum werde da gefördert. Und: »Alder, das signalisiert, dass hier ein Kleinkrieg geführt wird.« Der ist in Tübingen mittlerweile in zahlreichen Schmähparolen gegen den OB abgebildet.
»Toll«, dass fürs Graffiti-Entfernen Geld da ist in Tübingen, befand Jaron. Er sähe das Geld aber lieber für Schulen und Klimaschutz ausgegeben.
Ausgiebig wurde diskutiert, ob ein schönes illegales Graffiti besser ist als ein scheußliches. Robin fand die Unterscheidung »Streetart« und »Schmiererei« obsolet. Denn: »Jeder fängt ja mal an.« Auch gegen Sticker hat er nichts. Es sei denn, es stehen Naziparolen darauf.
»Kunst endet, wo Sachbeschädigung beginnt«
In der abschließenden ebenfalls sehr munteren Publikumsrunde fand Harald Stoll von der Reutlinger Gastro Initiative RGI – selbst schon graffitigeschädigt – eine griffige Formel: »Kunst endet, wo Sachbeschädigung beginnt.« Eine junge Frau, mutmaßlich der Zielgruppe des Abends zuzuordnen, fand das Thema Schmierereien überbewertet. Sie hätte sich lieber ein Podium »über die Schweinereien mit den Nazis« gewünscht, die im Zusammenhang mit Coronademonstrationen verstärkt durch die Stadt laufen.
Was der Reutlinger OB Keck aus dem Dialogauftakt mitnahm? »Wir arbeiten daran, Flächen zu schaffen.« Sprayflächen im Parkhaus Lederstraße sollen einen Anfang machen. 2021 hat die Stadt 130 000 Euro für die Beseitigung von Vandalismusschäden ausgegeben. Ein städtisches Übermalkommando wie in Tübingen, das auch die privaten Angeschmierten unterstützt, wird es aber nicht geben: »Wir haben keine Kohle dafür.« (GEA)