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Reutlingerinnen erzählen, wie es ist, hochsensibel zu sein

Hochsensibilität ist weder eine Krankheit noch eine Behinderung, sondern eine Eigenschaft wie die Augenfarbe. Doch für Betroffene ist es wichtig, eigene Bedürfnisse zu kennen und zu vermitteln. Betroffene Reutlingerinnen berichten.

Bei hochsensiblen Menschen sind die Sinne besonders stark ausgeprägt. Das kann zu Reizüberflutung führen.
Bei hochsensiblen Menschen sind die Sinne besonders stark ausgeprägt. Das kann zu Reizüberflutung führen. Foto: picture alliance/dpa
Bei hochsensiblen Menschen sind die Sinne besonders stark ausgeprägt. Das kann zu Reizüberflutung führen.
Foto: picture alliance/dpa

REUTLINGEN. »Was ist denn jetzt schon wieder mit dir los? Stell dich doch nicht so an! Sei doch nicht immer so sensibel!« Solche Sätze hörte Rebecca aus Reutlingen schon als Kind. Immer wieder wurde sie von Eltern oder in der Schule verspottet und kritisiert, weil sie sich häufig zurückzog, Lärm, starke Gerüche, helles Licht, Zugluft oder kritische Bemerkungen nicht ertrug und schnell weinte, weil sie sich überfordert fühlte. Heute weiß die 44-Jährige, dass sie zu den hochsensiblen Personen (HSP) zählt, deren Sinne Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen besonders stark ausgebildet sind und die daher häufig von Reizen geradezu überflutet werden.

»Hochsensibilität ist keine Krankheit, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal wie die Größe oder die Augenfarbe«, erklärt Jessica Ascher. Sie ist in Reutlingen Coachin für Hochsensible. Zunächst als Heilerziehungspflegerin tätig, ließ sie sich dann aufgrund ihrer eigenen Hochsensibilität bei Anne Heintze, führende Expertin für Hochbegabung, Hochsensibilität und Hochsensitivität in Deutschland, zur zertifizierten Mentaltrainerin ausbilden. Heintze entwickelte auch einen Test, durch den jeder selbst prüfen kann, ob er hochsensibel sein könnte. Denn ärztliche Diagnosen gibt es nicht, da es sich weder um eine Krankheit noch um eine Behinderung handelt.

»Es geht darum, sich nicht zu überfordern und Strategien für sich selbst zu entwickeln«

»Die Forschung ist noch relativ dünn und begann erst in den 1990er-Jahren mit der amerikanischen Psychologin Elaine Aron. Sie stellte fest, dass Hochsensible äußere Reize besonders stark wahrnehmen und intensiv verarbeiten«, so Ascher. Noch sei das ein gesellschaftliches Tabuthema, da Betroffene häufig schon als Kinder als »Sensibelchen« beschämt würden. »Dann heißt es oft, sie wollten nur Aufmerksamkeit und eine Sonderbehandlung.« Insgesamt habe die Gesellschaft Probleme, wenn jemand von der Norm abweiche. »Aber momentan kommen immer mehr Hochsensible auf mich zu«, so die Expertin.

Jessica Ascher, Mentaltrainerin und Coach für hochsensible Personen (HSP).
Jessica Ascher, Mentaltrainerin und Coach für hochsensible Personen (HSP). Foto: privat
Jessica Ascher, Mentaltrainerin und Coach für hochsensible Personen (HSP).
Foto: privat

HSP hätten auch eine besondere Empathie für ihre Mitmenschen. Sie seien gute Zuhörer und erfassten intuitiv, wenn das Gegenüber belastet sei. Dessen Sorgen und Schmerzen würden oft im eigenen Körper gefühlt. Dies könne sehr hilfreich sein, um andere zu verstehen und ihnen beizustehen, führe mitunter aber auch zur völligen Erschöpfung. »Hier ist es nötig, Abgrenzung zu lernen und zwischen den fremden und den eigenen Belastungen unterscheiden zu können.«

» Das alles genießt man in einer unglaublichen Intensität«

Jessica Ascher hilft dabei, mit der Eigenschaft umzugehen, denn »abtrainieren« könne man sie sich nicht. »Es geht darum, sich selbst ernst zu nehmen, sich nicht zu überfordern und Strategien für sich selbst zu entwickeln. Beispielsweise kann man Freunden sagen, wenn man ihre Party früher verlasse, sei das keine Ablehnung, sondern man brauche dann einfach Ruhe. Oder man kann gegen Wetterreize immer eine Sonnenbrille oder ein Tuch dabeihaben.« Leider gingen HSP oft über ihre eigenen Bedürfnisse hinweg und versuchten, sich der Norm anzupassen, um nicht als »Außenseiter« zu gelten.

Da Hochsensible früh beigebracht bekämen, sie und ihre Empfindungen seien seltsam und »falsch«, verlören sie das Vertrauen in die eigenen Gefühle. »Sie glauben dann anderen mehr als sich selbst und werden unter Umständen sogar leicht zu deren Opfern.« Lerne man jedoch, zu sich zu stehen, dann sei Hochsensibilität ein Geschenk. »Ein Sonnenuntergang, ein gutes Essen, ein Waldspaziergang, schöne Musik, ein Gespräch mit Freunden – das alles genießt man in einer unglaublichen Intensität.« Auch Kreativität und Gedächtnis seien oft sehr ausgeprägt. HSP hätten oft ein gutes Verhältnis zu Kindern und Tieren, deren Authentizität und »Echtheit« wohltuend seien. Geradezu »erdend« wirkten Gartenarbeit und die Natur.

Betroffene aus Reutlingen haben dem GEA von ihren Erfahrungen berichtet. Teilweise wird in diesem Artikel zum Schutz ihrer Privatsphäre auf die Nennung des Nachnamens verzichtet.

Rebecca (44):
Die Schule erlebte das Mädchen oft als zu wild, zu laut, zu wuselig, mit einer nervig flackernden Deckenbeleuchtung, ständigen Raumwechseln und viel zu starken Gerüchen. Das alles überforderte das Kind, das oft weinte. »Einmal hatten mich Kinder gejagt, ich war hingefallen und hatte mir Knie und Ellenbogen aufgeschlagen.« Die Lehrerin hatte kein Mitgefühl, sondern stellte sie vor die Klasse und meinte spöttisch: »Unsere arme Rebecca hatte ja einen ganz schlimmen Unfall.« Erwartungsgemäß lachten alle, was das Mädchen tief verletzte. Einmal mehr erlebte sich Rebecca als Außenseiterin, der niemand half. Statt Trost bekam sie von den Eltern Ohrfeigen, die sie »regulieren« sollten. Erst vor wenigen Jahren wurde Rebecca durch einen Vortrag auf HSP aufmerksam. Umso besser kann sie jetzt ihrer Tochter (15) zur Seite stehen, die die Hochsensibilität geerbt habe. Beide hoffen, wie viele andere, auf eine Einstufung durch die WHO als Erkrankung, da dies durch den sogenannten »Nachteilsausgleich« Erleichterungen bedeuten könne. Inzwischen haben sich die Eltern von Rebecca bei ihr für ihr früheres Verhalten entschuldigt. Heute studiert sie soziale Arbeit in Reutlingen.

Tanja (über 50):
»Du bist aber komisch, du Sensibelchen«, bekam Tanja oft gesagt. Noch heute reichen ihr Blicke von anderen, um sich schuldig und »nicht in Ordnung« zu fühlen. Gerüche, Geräusche, Stimmungen nimmt sie besonders stark wahr, und auch die Haut ist sensibel. »Ich konnte nie die rechten Maschen von den selbstgestrickten Socken meiner Oma ertragen«, berichtet sie. Doch der ruhige Garten der Großeltern und die Tiere seien ein Paradies gewesen. Da ihre Eltern sehbehindert waren, nahm die Familie ohnehin viel Rücksicht aufeinander. »Ich wurde akzeptiert, wie ich bin.« Heute lässt sie in einem Raum, in dem die weiße Hauswand des Nachbarn blendet, einfach den Rolladen herunter. »Sonst bekomme ich Migräne.« Man müsse zum inneren »Nein« stehen. In ihrer Jugend habe sie »dabei sein« wollen und mit anderen Discos besucht, wo laute Musik, Rauch, viele Menschen und Glitzerkugeln eigentlich unerträglich für sie waren. »Doch manchmal hat man die tagelange Erschöpfung danach in Kauf genommen.« Den Beruf musste Tanja allerdings wegen des angespannten Arbeitsklimas wechseln. »Ich konnte nicht mehr schlafen, hatte keinen Appetit, alles schmerzte.« Glücklicherweise habe der Hausarzt die richtige Idee gehabt, und auch ein Vortrag brachte sie auf die richtige Spur. Tanja kündigte, die Beschwerden verschwanden vollständig.

Sandra (38):
Sandra findet Einkaufszentren, Zoos und Freizeitparks furchtbar. Aber sie liebt ihre Tiere, mit denen sie sich sehr verbunden fühlt. Am Arbeitsplatz erwies sich ihre Sensibilität als sehr hilfreich: »Einmal habe ich einen Brand gerochen, bevor alle anderen was merkten.« In der Gastronomie sei es eine »Superkraft«, denn sie könne es hören, wann Steaks oder Pommes fertig seien. Sie höre sogar den Strom in den Kabeln. Beim Führen von Bewerbungsgesprächen merke sie schnell, wer sich eigne oder auch, wer unehrlich sei. Praktisch sei auch der »6. Sinn«, um zu erkennen, wo eine Radarfalle stehe. Um sich zu managen, plant Sandra nach Feierlichkeiten einen Ruhetag ein. »Dann kann ich es auch genießen.« Einkäufe verschiebt sie, wenn der Supermarkt zu voll ist. Ihre Tochter habe die Hochsensibilität geerbt und sei sehr wissbegierig und ihrer Zeit voraus gewesen. »Bei ihrer Einschulung 2014 sagte die Lehrerin, sie wolle niemanden haben, der schon schreiben könne und dadurch den Unterricht störe.« Man habe eine andere Schule finden müssen. Doch auf dem späteren Gymnasium sei es sehr hilfreich gewesen, die Hochsensibilität offen anzusprechen. Sie selbst sei in ihrer Schule auf Unverständnis gestoßen, wenn sie nebenher malte, um sich konzentrieren zu können. »Dabei konnte ich am besten zuhören.« Ruhe und Natur seien sehr wichtig. »Ich rieche jeden Baum, jede Blume. Manchmal schaue ich zehn Minuten einem Schmetterling zu.«

Tatjana (31):
Tatjana erlebte vor einem Jahr eine Krise in der Partnerschaft. »Ich war von allem permanent überreizt, hatte Wutanfälle und Stimmungsschwankungen, ohne zu ahnen, warum.« Der Grund lag vor allem im Schlafmangel wegen ihrer Nachtschichten als OP-Schwester. Sie kündigte und ist heute als Beraterin medizintechnischer Geräte im Außendienst ihre eigene Chefin. »Als HSP braucht man unbedingt einen regelmäßigen Tagesablauf und genügend Schlaf, denn nachts regeneriert man sich und verarbeitet die Eindrücke vom Tag.« Man sei anders gestrickt. »Es gibt eben Menschen, die mehr und welche, die weniger fühlen.« Tatjana wünscht sich insgesamt mehr Akzeptanz und Verständnis füreinander. Ihre Partnerschaft hat sich nach dem Jobwechsel übrigens wunderbar entwickelt: In sechs Wochen ist Hochzeit. (GEA)