REUTLINGEN. Vor eineinhalb Jahren begannen die russischen Angriffe auf die Ukraine. Seither reisen Teams des Reutlinger Hilfsvereins »Drei Musketiere« immer wieder ins Kriegsland, um die Menschen mit Lebensnotwendigem zu unterstützen. Jetzt waren sie wieder dort. Der Schwerpunkt: Cherson, nur wenige hundert Meter von den russischen Linien entfernt. Eine neue Erfahrung: Noch nie waren die »Musketiere« dem Kampfgeschehen so nah. Das Geräusch von Artilleriefeuer als ständiger Begleiter, Einschläge in gefährliche Nähe, gespenstisch leere Straßen, immer wieder Fliegeralarm. Und Todesopfer. »Ansatzweise konnten wir spüren, was Krieg bedeutet«, sagt »Musketier«-Vorsitzender Markus Brandstetter. Menschen sterben, Menschen leiden. »Das hat uns noch mehr bestärkt, weiterzumachen.«
Großer Bedarf an Hilfsgütern
Zunächst wie bisher in der Region um Charkiw, wo die Musketiere eine feste Verpflegungsstation und eine Suppenküche betreiben. Auch diesmal verteilten sie dort Hilfsgüter. Der Bedarf, sagt Brandstetter, ist nach wie vor groß. Erst recht in Cherson. Die Stadt im Süden, die im März 2022 vom russischen Militär eingenommen und im September von den ukrainischen Streitkräften zurückerobert wurde. Tausende flohen, von den 290.000 Einwohnern sind etwa 30.000 geblieben. Am 6. Juni dann die Sprengung des Kachowka-Staudamms: Die Stadt wird überflutet.
Überall Schlamm und Staub
Als die Musketiere ankommen, sind die enormen Schäden immer noch sichtbar. An den nahe an der russischen Linie gelegenen Kanal-Inseln, wo das Team Mahlzeiten verteilte, ist das Wasser zurückgegangen, doch der Schlamm sitzt bis zu 50 Zentimeter hoch. »An den Zäunen und Fassaden kann man erkennen, dass das Wasser bis zu zwei Meter hoch gestanden haben muss«, erzählt Markus Brandstetter. Angespülte Stühle, Möbel, Gerätschaften liegen überall herum, die inzwischen wieder freien Straßen sind mit einer braunen Staubschicht überzogen. An manchen Ecken sahen sie Helfer in Schutzwesten, die immer noch Straßen, Wege, Gärten und Häuser frei machen.
Noch höheres Risiko
»Durch die Kriegssituation sind die Menschen eh' schon am Leiden. Aber diese immense Flut hat noch mal zusätzliches Leid ausgelöst«, erklärt Brandstetter, warum die Musketiere trotz des noch höheren Risikos ausgerechnet in Cherson helfen wollten. Andere ausländischen Organisationen schickten zwar Hilfsgüter oder finanzielle Mittel, aber »wir sehen sie nicht«. Die Bewohner offenbar auch nicht. »Das ist das, was uns zurückgespielt wird – dass wir im Prinzip die Einzigen sind, die kommen und sie vor Ort unterstützen.«
Was aber enorm wichtig sei. Es gebe den Menschen Hoffnung, das Gefühl, nicht alleine gelassen zu werden und bestärke sie, durchzuhalten. Markus Brandstetter berichtet von einem Gottesdienst in Cherson, zu dem sie gebeten wurden. Der Priester, mit dem die Musketiere bei ihrem Einsatz eng zusammenarbeiten, stellte sie am Ende den Kirchgängern vor. »Fast jeder hat uns die Hand geschüttelt und sich bedankt. Das bedeutet den Menschen einfach wahnsinnig viel, dass wir in Persona vor Ort sind.«
Drohnen am Himmel
Drinnen Kirchenlieder, draußen Geschützdonner – eine, so Brandstetter, surreale Situation. Artilleriefeuer hörten sie Tag und Nacht. Manchmal sahen sie es auch, jenseits des Flusses, wo die russische Linie ist. Brandstetter berichtet von Bränden, schwarzen Rauchsäulen. Von zwei Mittelstreckenraketen, die über seinen Kopf hinweg flogen und »irgendwo in Cherson-City« einschlugen. An diesem Tag wurde ein Versorgungstruck beschossen. »Da werden zivile Ziele und humanitäre Hilfe ganz bewusst angegriffen.« Ständig kreisten Drohnen am Himmel. Ein sehr ungutes, mulmiges Gefühl, sagt der Reutlinger. »Da ist jemand, der dich beobachtet – und die Gefahr, dass es nicht die Guten sind.«
Auf Spenden angewiesen
Der Reutlinger Hilfsverein »Drei Musketiere« finanziert seine Einsätze ausschließlich über Spenden. Wer die Arbeit unterstützen will, kann das über folgendes Konto tun: Drei Musketiere Reutlingen e. V., KSK Reutlingen, IBAN: DE97 6405 0000 0100 1027 43,BIC: SOLADES1REU. (GEA)
In Cherson waren die Musketiere neun Tage lang. Zwei Tage packten sie in einer von der Kirchengemeinde organisierten Suppenküche, die sie vorab mit Lebensmitteln unterstützt hatten, mit an. Erst bei der Zubereitung der 1.000 Mahlzeiten, dann bei der Verteilung in den Stadtvierteln. Sowohl die Helfer als auch die Bewohner seien sich der Gefahr bewusst. »Die Autos treffen ein, die Leute kommen aus den Kellern, holen sich zack ihr Essen, verschwinden wieder und wir fahren zack weiter.«
Die meisten Todesopfer verbluten
Kurz davor war eine Ordensschwester bei der Verteilung von einer Schrapnell getroffen worden, die eine Arterie durchtrennte. Niemand konnte helfen, die Frau verblutete. Kein Einzelfall. »80 Prozent der Todesopfer verbluten«, weiß Brandstetter. Was mit den richtigen Handgriffen verhindert werden könnte: Die Musketiere wissen, was zu tun ist und nahmen den Todesfall zum Anlass, mit einheimischen Helfern spontan einen TECC-Crashkurs (Tactical Emergency Casualty Care) zu machen, der unter anderem auf Erste Hilfe bei Schussverletzungen und starken Blutungen ausgerichtet ist.
Wie die 250 First-Aid-Kits zur ersten Wundversorgung, die sie in Cherson verteilten. Dazu Lebensmittel, teils vorab ins Land transportiert, teils zugekauft. In Cherson-City, erzählt Markus Brandstetter, ist der Mangel größer als auf dem Land mit seinen vielen Selbstversorgern. Die meisten Läden haben geschlossen. Die Preise für das Wenige, das noch verkauft wird, sind hoch. Die Helfer versorgten die Bewohner hier und in den umliegenden Dörfern außerdem mit Hygieneartikeln, mit Medikamenten, mit der hochwillkommenen Kinderkleidung, gespendet von der Pfullinger Firma Engel – alles Dinge, die sich die Menschen schon lange nicht mehr leisten können. »Das Geld reicht nur für das Allernötigste.« Während seines Aufenthalts – es war enorm heiß – war Wasser Mangelware. 12.000 Liter verteilte das Musketier-Team. »Der Bedarf ändert sich ständig. Deshalb ist es ja so wichtig, so nah vor Ort und bei den Menschen zu sein, um schnell reagieren zu können.«
Kleine Zaubershows
Mit Unkraut zugewucherte Gehwege und Parkplätze. Zugenagelte Fensterscheiben. Kaum Autos, kaum Menschen auf den Straßen. Und immer wieder Fliegeralarm: Cherson, sagt Markus Brandstetter, hat etwas Gespenstisches, fast Postapokalyptisches. Dort leben zu müssen, mit der permanenten Beschuss-Situation und Bedrohung – kaum vorstellbar. Trotz allem seien die Bewohner den Musketieren herzlich, freudig, »fast schon liebevoll« begegnet. Wenn die Situation es zuließ, organisierte Teammitglied Mattia Bidoli, seines Zeichens Street-Magic-Weltmeister, kleine Zauber- und Clownshows. Wie sich die Kinder, aber auch die Mütter freuten, wie eine erzählte, ihr Sohn habe das erste Mal seit einem Jahr wieder gelacht – alleine das, sagt Markus Brandstetter, »ist es jede Mühe wert, das zu machen, was wir machen.«
Körperlich und mental extrem anstrengend
Zweimal schlug Artillerie in unmittelbarer Nähe des Teams ein. »Da hatte ich Angst.« Das Risiko bezeichnet der Reutlinger dennoch als überschaubar. Durch den engen Kontakt mit den Einheimischen wussten sie, wann und wo es gefährlich werden könnte. Sich lange an einem Ort aufzuhalten war tabu. Und Helm, kugelsichere Weste sowie ein »emergency backpack«, mit dem man 72 Stunden überleben kann, Pflicht. In der Summe schleppte jeder 15 Kilo mit sich herum. Dazu Hitze, Staub, Gestank. »Es war unfassbar anstrengend – körperlich und mental«, sagt Brandstetter. Ein Einsatz, der dem Team alles abforderte, aber erfolgreich war. »Wir haben alles umgesetzt, was wir uns vorgenommen haben.« Für Oktober ist die nächste Hilfsaktion geplant. (GEA)