REUTLINGEN. Bei der internationalen Leistungsstudie Pisa haben deutsche Schüler im Jahr 2022 so schlecht abgeschnitten wie nie zuvor. Im Fach Mathematik, bei der Lesekompetenz und in den Naturwissenschaften erreichten Neuntklässler den bislang niedrigsten Wert. Das Bildungsniveau ist gesunken, bemängeln auch Reutlinger Lehrer.
Trägt die Corona-Pandemie eine Mitschuld?
Unter ihnen die geschäftsführende Rektorin aller Reutlinger Grund-, Förder-, Gemeinschafts- und Realschulen, Christiane Stieler. Ihrer Einschätzung nach trägt die Corona-Krise zwar nicht die alleinige, aber durchaus eine Mitschuld am schlechten Abschneiden der deutschen Schüler. »Kinder, deren Eltern sich für sie in der Pandemie Zeit genommen haben, haben viel weniger Nachteile als diejenigen, deren Eltern nur mit ihnen vor dem Fernseher gesessen sind.« Hinzu komme, dass viele Schüler auf das plötzliche eigenständige Lernen im Fern-Unterricht - im sogenannten Home-Schooling - nicht vorbereitet gewesen seien, so Stieler. Die Folge: Überforderung.
Den Anteil der Pandemie am dürftigen Pisa-Ergebnis hält eine Reutlinger Grundschullehrerin, die ihren Namen nicht in der Zeitung genannt haben will, derweil für geringer, als Christiane Stieler dies tut. »Die Neuntklässler aus der Pisa-Studie waren zum Zeitpunkt der Corona-Pandemie schon zwölf Jahre oder älter. Bildungslücken in der Lesekompetenz der Neuntklässler lassen sich deshalb nicht durch die Corona-Pandemie erklären«, argumentiert sie.
Veraltete Unterrichtsmethoden demotivieren
Aus ihrer Sicht würden Mädchen und Jungen wegen veralteter Unterrichtsmethoden die Begeisterung fürs Lernen oft schon im Grundschulalter verlieren. »Wie sinnvoll ist es«, fragt die Pädagogin, »als Lehrkraft Plakate erstellen zu lassen, wenn die Schüler viel lieber am Computer arbeiten würden?« Lernstoffvermittlung müsse deshalb eher auf digitalem Weg den Bedürfnissen und unterschiedlichen Stärken der Kinder angepasst werden, verlangt sie.
Eine Forderung, die von der geschäftsführenden Rektorin Christiane Stieler geteilt wird. Besonders digitales Lernen, hat sie beobachtet, gibt Schülern einen enormen Motivationsschub, sich mehr im Unterricht zu beteiligen. Die Politik müsse deshalb »viel mehr in Grundschulen investieren. Seitdem wir auf der Jos-Weiß-Schule Bildschirme in den Klassenzimmern haben, sind die Schüler viel motivierter.«
Unkonzentrierte Schüler, entsetzte Eltern
Auch eine Reutlinger Gymnasiallehrerin für Deutsch und Englisch - sie zieht es ebenfalls vor, anonym zu bleiben - sieht die Pandemie nicht als Hauptgrund fürs schlechte Pisa-Resultat. »Vielmehr hat sich das Verhalten der Schüler in den letzten Jahren verändert«, bemerkt sie. Digitale Medien, Computerspiele, die täglich und noch dazu unkontrolliert über Smartphone und Tablet von Kindern konsumiert werden, bedingen nach Meinung der Pädagogin auffällige Verhaltensweisen im Unterricht - von der Konzentrationsschwäche bis hin zum stark eingeschränkten Auffassungsvermögen. »In einer Hausaufgabe über klassische Balladen hat ein Kind über Fortnite, das ist ein Computerspiel, geschrieben. Weil das Kind noch nicht zwölf ist, darf es laut Altersbeschränkung das Spiel eigentlich gar nicht spielen«. Die Lehrerin habe daraufhin mit den Eltern gesprochen. Sie seinen entsetzt gewesen.
Dass Kinder immer schlechtere Leistungen erbringen, liegt, so die Gymnasiallehrerin, auch daran, dass Eltern immer weniger Zeit für ihre Kinder und die Hausaufgabenbetreuung haben oder sich diese Zeit schlichtweg nicht nehmen. »Zeit und Geduld seitens der Eltern, von beidem braucht es mehr.«
Klassengrößen am Limit
»In der fünften Klasse, wo Schüler eigentlich immer noch intensivere Betreuung benötigen, starten wir mit über 30 Schülern pro Zug«, berichtet die Gymnasiallehrerin. Was auch daran liege, dass allzu viele Eltern die unverbindlichen Grundschulempfehlungen ignorieren. Anstatt ihre Kinder, dem Rat der Grundschule folgend, auf Real- oder Gemeinschaftsschulen zu schicken, wählen sie das Gymnasium. Weshalb dort die Eingangsklassen Dimensionen annehmen, die niemandem guttun. »In einer Klasse auf dem Gymnasium wären etwa 20 Schüler ideal«, sagt die Gymnasial-Lehrerin.
Gleiches Bild in den Grundschulen: »In der Grundschule wären zwölf Kinder ideal, um individuell auf die Bedürfnisse eines jeden einzelnen Schülers eingehen zu können«, bemerkt die Grundschullehrerin. Realität seien aber meist über 20 und mehr Schüler pro Klasse.
Zuwanderung belastet das Schulsystem
Immer enger werde es in den Unterrichtsräumen seit geraumer Zeit - auch aufgrund des Zuzugs von Flüchtlingen, so Christiane Stieler. »Wir haben hier keinen Platz«, berichtet sie. Man sei am Limit. Was ursprünglich in speziellen Nicht-Muttersprach-Gruppen geplant war, geschehe laut Stieler mittlerweile in zusammengewürfelten Klassen. »Sie«, also die Flüchtlingskinder, »können zwar lesen, aber verstehen die Wörter nicht«, schildert sie die Problematik. Auch größte pädagogische Anstrengungen würden nicht bei jedem Schüler ausreichen, damit die Integration im Unterricht gelingt. »In den ersten vier Jahren das aufzuholen, was Schüler ohne Migrationshintergrund gelernt haben, ist schlichtweg nicht möglich«, sagt Stieler.
Vor diesem Hintergrund sieht die geschäftsführende Schulleiterin im Übrigen keine Mitschuld der Lehrkräfte am schlechten Pisa-Ergebnis und betrachtet die Studie 2022 als Warnhinweis: »Sie zeigt, wie problematisch unsere Situation ist.« Ein Resümee, das die beiden anonymen Interview-Partnerinnen unterschreiben. Auch bei ihnen schrillen längst die Alarmglocken - weil das deutsche Schulsystem bildungspolitische Versäumnisse nicht aufzufangen vermag. Trotz pädagogischer Anstrengung und großem Idealismus: Die Bordmittel reichen seit geraumer Zeit nicht mehr aus, um Kindern mit widrigen Startbedingungen oder anderweitigem Unterstützungsbedarf das Rüstzeug für gelingende Bildungsbiografien mitzugeben. (GEA)
Reutlinger Leselern-Paten hoffen auf Verstärkung
Nicht nur Lehrer, sondern auch Reutlingens Leselern-Paten sind durch die Resultate der Pisa-Studie 2022 alarmiert. Als Mitglieder eines gemeinnützigen Vereins, der sich für die individuelle Förderung von Kindern im Alter zwischen 6 bis 16 Jahren starkmacht, sehen sie den Bedarf an ihrem Ehrenamt stark steigen. Unentgeltlich betreuen Lesepaten Förderkinder in der Schule und unterstützen sie dadurch bei der Lesefähigkeit und dem Leseverständnis. Weil die Zahl der föderbedürftigen Kinder mit der neuen Studie von 1.500 auf 2.000 Kinder nach oben korrigiert werden muss, suchen Reutlingens Leselern-Paten nach weiteren ehrenamtlichen Helfern. (max)
Telefon: 07121 387-8446