REUTLINGEN. Im ganzen Haus brennt Licht, aber keiner darf mehr rein. Da können die Kunden am Morgen des 17. Januar, dem als letzten Abverkaufstag der Reutlinger Kaufhof-Galeria angekündigten Termin, noch so kräftig an den Doppelglastüren rütteln, noch so entschieden klopfen. Die im Innern des Kaufhauses beim Reutlinger Hauptbahnhof wie zu einer Besprechung im Kreis stehenden Mitarbeiter reagieren nicht. Selbst nachdem eine Dame im weißen Daunenmantel den Eingang an der Ecke Kaiser- und Karlstraße - der einzige, der laut Plakatierung am Gartenstraßen-Eingang noch funktionieren soll - zu entriegeln scheint, bleibt die Tür zu.
Bereits vor zehn Uhr waren zwei Herren da, die an der Eingangstür genottelt haben. Zum Glockenschlag sind sechs bis sieben Schnäppchenjäger, vorrangig Frauen, vor der Tür versammelt, blicken fragend hinein, schauen um sich, unterhalten sich kurz und gehen dann, eine nach der andern, enttäuscht wieder weg. Weitere Leute kommen heran, junge, ältere, von Reutlingen und von auswärts. Zwei jüngere Männer interessieren sich für die Kaufhausmöbel, die es noch abzugeben gibt. Ein Zettel am Schaufenster verweist sie an einen Zuständigen samt Telefonnummer.
Ein Mitarbeiter der Bäcker-Keim-Filiale gleich rechts vom Eingang, der Boxen voll Reinigungsmittel um die Ecke schiebt, erklärt immerhin knapp: »Bei uns ist nichts mehr.« Er meine, Kaufhof mache am letzten Schlussverkaufstag auch nicht mehr auf. Eine Frau winkt drinnen zwischen weiß glänzenden leeren Sideboards ab. Schließlich schließt ein mit offiziellem Band um den Hals ausgestatteter Mann mit Glatze, in Sakko, Sneakers und Jeans, die linke Glastür auf. Hoffnung auf Einlass keimt nur ganz kurz auf, denn er weist Fragen der Möchtegern-Lastminute-Kunden rüde ab.
Und schiebt auch vor diesen Eingang - wie dies bereits vor den anderen der Fall ist - zwei kleine Pfosten, verbunden durch rot-weißes Absperrband. Hektisch fummelt er danach am Schloss, das nicht mehr einzurasten scheint, und rückt letztlich von innen Bäckerei-Aufsteller vor die Türen. »Keim backt's« steht da drauf. Doch hier kriegt keiner mehr was gebacken. Der Glatzköpfige eilt davon in die Tiefen des einstigen Konsumparadieses. Ein Mitarbeiter im blauen Anorak kommt zum Eingang und klärt verwirrte Kunden mittels Hals-ab-Geste auf. Universell verständlich. Verrammelt und abweisend, so verabschiedet sich der Kaufhauskonzern von Kunden und Nostalgikern.
Nach Merkur und Horten ist auch die Ära Kaufhof in Reutlingen damit beendet. »Jetzt ist's zu spät«, sagt Andrea Freundt enttäuscht, geboren und wohnhaft in Reutlingen. »Ich dacht, ich lauf' nochmal durch.« Der einst so strahlende Warentempel ist für viele, die sich an diesem kalt-regnerischen Morgen nochmal dorthin auf den Weg gemacht haben, mit Erinnerungen verbunden. Noch ein letztes Mal über die weiten, nun mit leeren Regalen und Tischen bestückten Flächen schlendern, nochmal die Rolltrepe rauf und runterfahren, wollte auch die italienischstämmige Angela Disidoro. Ihr Mann habe gesagt, heut' sei nochmal auf. Pfeifendeckel. Sie wohne in der Nähe und habe dort im oberen Stock immer gern Kleidung gekauft.
Sie bedauert, dass es in ihrer Nachbarschaft nun keine Einkaufsmöglichkeit mehr gibt. Und wünscht sich einen Lebensmittelmarkt her. »Das gab's früher auch, erinnern Sie sich noch?« Vor 50 Jahren. Da leuchtet das Gesicht der brünetten Frau mit den langen Haaren auf. Kindheit und Jugend sind mit dem einstigen Horten, der für viele allzeit der »Merkur« blieb - mit Betonung auf der vorderen Silbe -, verbunden. Damals gab's in der oberen Wilhelmstraße auch noch einen Aldi, erinnert sich Frau Disidoro. Nun müsse man das Auto nehmen, wenn man Lebensmittel einkaufen will. In der Innenstadt gebe es nur noch türkische und asiatische Gemüse- und Obsthändler. »Die haben aber ja nicht alles, was man so braucht.«
Am Dienstagabend sei auch innerhalb der Belegschaft noch der Stand gewesen, dass am Mittwoch letztmals geöffnet wird, sagt eine Mitarbeiterin im armeegrünen Parka, die draußen einen Wagen mit leeren Boxen am Schaufenster entlangschiebt. »Doch heute morgen hieß es, wir machen nicht mehr auf.« Ein spontaner Entschluss der Filialleitung. Begründung: »Es ist keine Ware mehr da.« Schon am Tag vor dem vermeintlich letzten wurde alles restlos ausverkauft.
Die Regale waren schon seit Wochen weitgehend leer, statt Verkäuferinnen bediente Security-Personal die Kassen. Vergangenen April war bekanntgeworden, dass das traditionsreiche Kaufhaus in der Karlstraße 20 schließt. Damals hieß es, Ende Januar 2024. Rund 90 Arbeitsplätze fielen damit nach Betriebsratsangaben weg. Im März 2023 hatte die Galeria Karstadt Kaufhof GmbH aus Essen bekanntgegeben, sie schließe 47 ihrer bundesweit 129 Warenhäuser. Darunter auch das in Reutlingen mit 22.000 Quadratmetern Nutzfläche, davon 12.500 Quadratmeter für den Verkauf, und dem Parkhaus mit 180 Stellplätzen.
Der US-Private-Equity-Investor Apollo hatte es 2020 von der Signa Holding des Galeria-Karstadt-Kaufhof-Eigners René Benko übernommen. Betriebsrat und Wirtschaftsförderung der Stadt hatten noch versucht, einen Mieter fürs Untergeschoss zu finden, um die Miete von angeblich 2,2 Millionen Euro im Jahr für Galeria zu verringern - umsonst.
Andrea Freundt hofft, dass wieder etwas Wertiges ins Kaufhaus mit der prägnanten weißen 3-D-Fassade einzieht. »Das ist schon ein richtiger Verlust für Reutlingen«, findet sie. Die Leute gingen dann wohl nach Metzingen zum Shoppen. »Wenn man bedenkt, was Reutlingen füher war«, sinniert sie bedauernd und wünscht den anderen umsonst Wartenden noch »einen schönen Tag«. (GEA)