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Aktuell Interview

Reutlinger Grünen-Landtagsabgeordneter für Wahlfreiheit zwischen G8 und G9

Im GEA-Interview lässt der Reutlinger Grünen-Landtagsabgeordnete Thomas Poreski eine kleine Bombe platzen: Nachdem die Partei jahrelang eine Rückkehr zu G9 vehement ausgeschlossen haben, kann sich der bildungspolitischer Sprecher nun an Gymnasien und Gemeinschaftsschulen eine flexible Oberstufe vorstellen.

Foto: Armin Weigel/dpa
Foto: Armin Weigel/dpa

REUTLINGEN/STUTTGART. Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends vom Oktober liefern ein besorgniserregendes Bild: Unsere Viertklässler sind bundesweit betrachtet nur noch Mittelmaß. Fast jedes fünfte Kind schafft die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik nicht. In den vergangenen Wochen wurden einige Beschlüsse auf den Weg gebracht, die die Schulen entlasten, Schülerinnen und Schüler unterstützen sollen. Doch kann das reichen? Wir haben mit dem bildungspolitischen Sprecher der Grünen im Landtag, Thomas Poreski, gesprochen, der im Gespräch eine kleine Bombe platzen lässt: Nachdem die Grünen jahrelang eine Rückkehr zu G9 vehement ausgeschlossen haben, kann sich Poreski nun an Gymnasien und Gemeinschaftsschulen eine flexible Oberstufe vorstellen. Faktisch hieße das die Wahlfreiheit zwischen G8 und G9 an Gymnasien.

Umfrage (beendet)

Sollten Schüler Wahlfreiheit zwischen G8 und G9 haben?

Der Reutlinger Landtagsabgeordnete Thomas Poreski, bildungspolitischer Sprecher der Grünen, plädiert für eine flexible Oberstufe an Gymnasien und Gemeinschaftsschulen.

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GEA: Herr Poreski, haben wir in Baden-Württemberg zu wenig Lehrkräfte?

Thomas Poreski: Lehrermangel ist leider ein bundesweites Problem, da steht kein Land wirklich gut da. Ich kann aber sagen: Wir haben in den letzten sechs Jahren die Zahl der Studienplätze für die Sekundarstufe um 30 Prozent sowie für das Grundschullehramt um 70 Prozent erhöht – und es gibt hierfür zum Glück auch genügend Bewerberinnen und Bewerber. Wir haben außerdem die Quereinstiegsmöglichkeiten verbessert und wir bessern jetzt auch bei der Versorgung mit sogenannten Fachlehrern nach. Hier ist in den kommenden Jahren Besserung in Sicht. Klar ist aber auch: Der Ausbaupfad muss konsequent weiter beschritten werden. Mit dem nächsten Doppelhaushalt können über 2 000 Lehrkräfte zusätzlich eingestellt werden. Das ist der bisher höchste Zuwachs.

Die baden-württembergische Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) hat kürzlich angekündigt, ein Freiwilliges Pädagogisches Jahr (FPJ) einführen zu wollen. Kann ein freiwilliges Jahr den Lehrermangel beheben?

Poreski: Das FPJ ersetzt keine Lehrerinnen und Lehrer. Aber es kann Lehrkräfte bei der individuellen Förderung wirksam unterstützen und zudem jungen Menschen Lust auf den Lehrberuf machen. Hinzu kommen neu ab dem kommenden Jahr einige Hundert zusätzliche pädagogische Assistenten und Assistentinnen. Solche unterstützenden Kräfte gab es auch früher schon, in kleinerer Zahl. Sie mussten aber bisher auf Lehrerstellen angerechnet werden. Das ist in Zukunft nicht mehr so, denn ab sofort können sie zusätzlich eingestellt werden. Das war einer der Erfolge der Haushaltsverhandlungen und darauf sind wir ziemlich stolz.

Thomas Poreski ist bildungspolitischer Sprecher der Grünen im Landtag. Foto: Privat
Thomas Poreski ist bildungspolitischer Sprecher der Grünen im Landtag.
Foto: Privat

Die Landesregierung hat zudem der Erprobung »multiprofessioneller Teams« an Grundschulen zugestimmt. Was kann man sich darunter vorstellen und was sollen sie bewirken?

Poreski: Multiprofessionelle Teams umfassen als Ergänzung zu den Lehrkräften zum Beispiel Sozial- und Heilpädagogen, musische Berufe, FPJler, aber auch Verwaltungskräfte und IT-Dienstleisterinnen und -Dienstleister. Sie alle können einzelne Schülerinnen und Schüler intensiv fördern und die Lehrkräfte von nicht-pädagogischen Aufgaben entlasten. Wie diese Vielfalt am besten für das Wohl und den Erfolg der Kinder zusammenwirkt, wird in dem Modellversuch erprobt. Einiges davon findet übrigens heute schon im Zuge des Rückenwindprogramms an vielen Schulen statt.

Ricarda Kaiser, die stellvertretende GEW-Landesvorsitzende, meinte kürzlich in einem Interview, das Land habe in den letzten Jahren die Grundschulen kaputtgespart. Es gäbe keine zusätzlichen Förderstunden, keine Kleingruppen mehr, um Leistungsschwachen helfen zu können. Ist das so?

Poreski: Es wurden vom Land an keiner Grundschule Planstellen gekürzt. Der Bildungsetat ist höher denn je und steigt stärker als alle anderen Haushaltsbereiche. Das ist heute richtig und bleibt auch künftig wichtig. Der Mangel hat viele Ursachen: Durch den Generationenwechsel haben wir zum Beispiel viele junge Lehrerinnen an den Grundschulen. Dass viele von ihnen schwanger werden, ist erfreulich und wurde auch erwartet. Allerdings werden sie seit Corona ab Beginn ihrer Schwangerschaft sofort krankgeschrieben. Das war früher anders, wird aber wohl auch nach Corona so bleiben. Ich kann mir sehr gut eine flexible Oberstufe vorstellen. 

Zur Person

Thomas Poreski (59) ist Reutlinger Landtagsabgeordneter und bildungspolitischer Sprecher der grünen Landtagsfraktion und Vorsitzender des Arbeitskreises Kultus, Jugend und Sport. Seit März 2022 ist Poreski außerdem stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen im Landtag. Der ausgebildete Diplom-Sozialarbeiter und Diplom-Pädagoge ist Vater zweier erwachsener Kinder und wohnt in Reutlingen. (kli)

Bildungs-Experten haben noch ganz andere Probleme ausgemacht. Sie kritisieren ein völlig veraltetes Schulsystem. Stopfen wir nur Löcher, wo wir doch das ganze Flugzeug austauschen müssten?

Poreski: Es geht tatsächlich um beides: Wir müssen kurzfristig wirksame Erleichterungen schaffen und zudem von den Erfahrungen jener Staaten lernen, die in den Bildungsvergleichen vorn liegen. Die Referenz für uns ist die Champions League, also etwa Finnland und Kanada. Unsere Bildungsforscherinnen und -forscher sagen zu Recht: Wie die Wirtschaft muss sich auch die Schule auf die Anforderungen des 21. Jahrhunderts einstellen und die dafür erforderlichen Kompetenzen entwickeln. Das sind insbesondere die berühmten vier Ks: Kooperation, Kommunikation, Kreativität und kritisches Denken. Bei uns gilt in den Bildungsplänen immer noch ein Mehr des Althergebrachten. Hier müssen und werden wir umsteuern.

»Ich kann mir sehr gut eine flexible Oberstufe vorstellen«

Wie könnte das aussehen?

Poreski: Da wir sehen, dass Kinder in Finnland oder Kanada mit wesentlich weniger Belastung deutlich bessere Ergebnisse erzielen, müssen wir überlegen, wo wir Weichenstellungen verändern. In den Klassen 6 bis 9 ist der Stoffumfang einfach zu groß, die Kompetenzentwicklung kommt demgegenüber zu kurz. Wir haben in Baden-Württemberg nun einen Schulversuch gestartet, unter dem Titel »Deeper Learning«. Er wird von Professorin Anne Sliwka aus Heidelberg, einer weltweit renommierten Bildungsforscherin, begleitet. Bei »Deeper Learning« geht es um die Frage, wie wir an Schulen sinnvolles Fachlernen mit Kompetenzen verknüpfen und damit vertieftes Lernen anregen.

Das Schulsystem in Finnland und Kanada sieht Poreski als die Champions League. An ihr will er sich orientieren. Foto: Burgi/dpa
Das Schulsystem in Finnland und Kanada sieht Poreski als die Champions League. An ihr will er sich orientieren.
Foto: Burgi/dpa

Sie sprechen von einer großen Belastung, zu viel Stoff in den weiterführenden Schulen. Wäre dann die Rückkehr zu G9, dem Gymnasium in neun Jahren, in Baden-Württemberg nicht auch der richtige Schritt?

Poreski: Darüber diskutieren wir sehr offen. Ich persönlich kann mir sehr gut eine flexible Oberstufe vorstellen. Dabei würde nicht schon im Alter von zehn Jahren festgelegt, wie lange der Weg zum Abitur dauert. Die Schülerinnen und Schüler würden vielmehr am Ende der Mittelstufe entscheiden, was für sie passt. An den beruflichen Gymnasien und an den Oberstufen der Gemeinschaftsschulen hätten sie so die Wahl zwischen G9 und G10, an den allgemeinbildenden Gymnasien zwischen G8 und G9. In Kombination mit einer stofflichen Entlastung in der Mittelstufe wäre dies kurzfristig umsetzbar und aus meiner Sicht sehr sinnvoll.

Schlechtes Abschneiden bei Leistungstests

Nach den ernüchternden Testergebnissen in Deutsch und Mathematik bei Viertklässlern im Land erwartet die Schul-Gewerkschaft GEW ein deutliches Nachsteuern der baden-württembergischen Landesregierung. Die grün-schwarze Koalition müsse Fehler korrigieren und die jahrelange Vernachlässigung der Grundschulen beenden, fordert die Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Monika Stein.

Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) fordert schon seit Jahren eine flächendeckende Ausstattung der Grundschulen mit multiprofessionellen Teams, die Landesregierung hat vor Kurzem dazu einen Modellversuch beschlossen. Im Bildungsbereich müsse zudem endlich mehr Geld in die Hand genommen werden: Baden-Württemberg investiere für seine Grundschulkinder nur rund 6.700 Euro pro Jahr, Hamburg immerhin um die 12.000 Euro.

Die Verbände sind sich bei einem Thema seit langem einig: Sie fordern mehr Lehrkräfte an Schulen, machen Lehrermangel als einen der Hauptgründe für das schlechte Abschneiden der baden-württembergischen Viertklässler bei der IQB-Studie aus. Der VBE Landesvorsitzende Gerhard Brand meint dazu: »Man muss nicht das ganze Schulsystem ändern, damit mehr Qualität reinkommt. Aber man muss das Schulsystem insgesamt stärken, damit es seine Aufgaben qualitativ hochwertig erfüllen kann. Hierzu zählt in erster Linie, dass es an allen Schulen ausreichend und gut ausgebildete Lehrkräfte gibt.« (kli)

Sind große Würfe in der Bildungspolitik in der derzeitigen Regierung überhaupt möglich?

Poreski: Ich habe den Job des bildungspolitischen Sprechers vor eineinhalb Jahren angestrebt, weil ich glaube, dass wir mit unserer derzeitigen Kultusministerin tatsächlich die Chance haben, die Weichenstellung in der Bildungspolitik zu verändern. (GEA)