GEA: Herr Keck, ist der Vertrauensverlust der Bürger in die Politik etwas, was Sie auch als Oberbürgermeister in dieser von der Bertelsmann-Studie aufgezeigten Dimension wahrnehmen?
Thomas Keck: Durchaus – das kriegen alle ab, die politisch tätig sind, auch die Kommunalpolitiker. Man glaubt ihnen nicht mehr und schustert sich seine eigenen Wahrheiten zusammen, und seien sie noch so krude und realitätsfern. Wenn laut Bertelsmann-Stiftung 42,4 Prozent der Landesbevölkerung glauben, dass ihre Regierung die Wahrheit verschleiert, macht mich das fassungslos. Dass 53,7 Prozent der Meinung sind, Politiker gäben keine Auskunft über ihre wahren Motive, kann ich das schon eher verstehen.
Und warum?
Keck: Weil auch ich wahrnehme, dass in einer Krisensituation, wie sie in Deutschland seit Ende des Zweiten Weltkrieges noch nie geherrscht hat, nach wie vor der Parteienstreit im Wettbewerb darum tobt, wer beim Bürger am meisten punktet. Anstatt in einer konzertierten Aktion die Kraftanstrengung zu unternehmen, die Riesen-Probleme, die wir haben, gemeinsam zu lösen. Das ist der Sache abträglich, und daher rührt meines Erachtens ein großer Teil dieses Vertrauensverlustes.
Wie spüren Sie besagten Vertrauensverlust der Bürger ganz konkret?
Keck: Als Oberbürgermeister ist man in einer exponierten Position den Bürgern gegenüber und wird in gewisser Weise mit der großen Politik über einen Kamm geschoren. Das macht mir zu schaffen. Ich bin ja ein Typ zum Anfassen, ich mag Menschen und den direkten Austausch mit ihnen, aber der ist schwieriger und nervenaufreibender geworden. Man wird für Dinge angegriffen, für die man nichts kann; den Kritikern ist es zunehmend egal, welche Entscheidung wo und von wem getroffen wurde. Vor allem bei den Pandemie-Leugnern geht es gegen den Staat an sich: Alles, was vom Staat kommt, ist schlecht – und ich bin Vertreter des Staates.
»Man wird für Dinge angegriffen, für die man nichts kann«
Jüngst hat eine Gruppe Samstagsdemonstranten beim Tübinger Tor »Keck muss weg!« skandiert, als Sie mit Freunden dort unterwegs waren. Wie haben Sie reagiert?
Keck: Gar nicht, ich bin einfach weitergelaufen. Aber das macht einem schon zu schaffen, das gebe ich zu. Und ich hatte Gäste dabei, die waren auch noch am nächsten Tag völlig konsterniert und sagten, so etwas hätten sie noch nie erlebt.
Bezieht sich besagter Vertrauensverlust nur auf die sogenannte Verwaltungsspitze mit (Ober-)Bürgermeistern und Amtsleitern, oder bekommen das die Mitarbeiter der Stadtverwaltung ganz allgemein zu spüren?
Keck: Sie bekommen das insofern ab, als der Ton fordernder, rauer geworden ist. Solche Dinge wie Anstand und dass man auf einem bestimmten Niveau, auch sprachlich, miteinander umgeht, das lässt zunehmend nach. Aber das ist eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung, das betrifft nicht nur Behörden.
Würden Sie so weit gehen, vom Verfall der Sitten im Umgang miteinander zu reden?
Keck: Ja, absolut.
Betrifft das auch den Gemeinderat?
Keck: Wir haben einen Gemeinderat, der sehr traditionell besetzt ist, viele der amtierenden Räte sind seit Jahrzehnten Mitglied des Gremiums. Die Zusammenarbeit ist noch gut, aber die beschriebenen Tendenzen sind auch im Gemeinderat ablesbar. Es gibt Entgleisungen, aber es ist noch nicht so, dass ich in der Sitzung eingreifen und Leute zur Ordnung rufen müsste. Die allgemeine Entwicklung wird sich jedoch auch in kommenden Gemeinderäten nicht aufhalten lassen, das ist für mich keine Frage.
ZUR PERSON
Thomas Keck, 59, ist seit April 2019 Reutlinger Oberbürgermeister. Zuvor war der Sozialdemokrat mehr als zwei Jahrzehnte lang Geschäftsführer des Mieterbundes Reutlingen/Tübingen. Studiert hat er in Ulm und Tübingen zunächst ein paar Semester Medizin, später Politikwissenschaft. Seine kommunalpolitische Karriere begann 1994 mit dem Einzug in den Gemeinderat, von 2004 bis 2019 war er Bezirksbürgermeister in Betzingen. (GEA)
Wie bewerten Sie es denn, wenn ein AfD-Stadtrat eine Anzeige wegen Verstoßes gegen das Versammlungsverbot als »autoritären und aggressiven Akt von Ihrer Seite« wertet und dem Stadthaushalt die Zustimmung mit dem Argument verwehrt, Ihnen »das Geld für diese Politik wegzunehmen«?
Keck: Das ist ein befremdlicher Vorgang, der mich auch ein Stück weit ratlos macht. Da versucht jemand, seine populistische Masche weiter zu stricken und auf Teufel komm raus Reibung zu erzeugen, in dem Fall mit mir, und Dinge zusammenzubringen, die nicht zusammenzubringen sind. Im Übrigen hatte mir besagter Stadtrat im November vergangenen Jahres gesagt, dass sich der Ton in der zweiten Hälfte der gemeinderätlichen Amtsperiode drastisch verschärfen werde, das sei ja wohl klar.
Sind Sie persönlich schon ernsthaft bedroht worden und worin bestanden diese Drohungen?
Keck: Ob ernsthaft oder dumm, ich weiß es nicht. Vergangene Weihnachten kam hier im Rathaus ein Brief an, anonym, aber frankiert und abgestempelt. Darin war ein Zettel »Du Drecksau, Dich kriegen wir auch noch« mit einem abgehackten Mäuseschwanz und einer abgehackten Mäusepfote draufgeklebt.Was macht das mit Ihnen?
Keck: Wenn ich sagen würde, das macht nichts mit einem, hätte ich gelogen. Ich hab’s nach kurzer Überlegung zu Hause erzählt, gesagt, macht Euch keine großen Sorgen, guckt halt – wir wohnen am Eingang einer Sackgasse – wer da reinläuft. Es beschäftigt einen dann schon. Spurensicherung und DNA-Auswertung haben nichts ergeben. Auf Anraten des Staatsschutzes habe ich es nicht an die große Glocke gehängt, das hätte die Ermittlungsarbeit nur erschwert. Es gab auch andere Sachen wie zugeschickte Todesanzeigen mit meinem Namen. Das ist nicht schön. Ansonsten sind es meistens Angriffe in E-Mail-Form, bei denen in unverschämtem Ton vom Leder gezogen wird.
Antworten Sie auf solche Mails oder ignorieren Sie sie?
Keck: Wenn Fake News zugrunde gelegt werden, stellen wir das klar. Im Zusammenhang mit den Demos gegen die Corona-Maßnahmen habe ich auch Leuten das Gespräch angeboten. Wir haben uns ausgetauscht, aber rationalen Argumenten sind die nicht zugänglich. Dann geht’s in Richtung Geschwurbel und es ist eine Stunde Lebenszeit vertan. Aber ich hab’s versucht.
Haben Sie den Eindruck, dass Corona das Misstrauen in die Politik und staatliche Behörden verstärkt hat?
Keck: Das ist eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung, die sich an dieser Stelle zeigt, die aber schon seit 40, 50 Jahren läuft. Unsere Gesellschaft ist in allen Lebensbereichen weitgehend liberalisiert. Jeder kann mehr oder weniger machen, was er will. Das führt zu einer
Entgleisung der Dinge, zu einer Übersteigerung der eigenen Ansprüche an das System und zu einer Geringschätzung, ja Ablehnung der Pflichten, die wir haben. Das Gemeinwesen funktioniert aber nur, wenn der Einzelne bereit ist, manche seiner Ansprüche und Rechte ein Stück weit einzuschränken. Ist das nicht mehr der Fall, explodiert das System.
Aber wie kriegt man eine Gesellschaft, die auseinanderdriftet, wieder zusammen?
Keck: Die Möglichkeiten sind sehr begrenzt. Das kann man nur durchs Gespräch auffangen und hoffen, dass sich die äußeren Umstände beruhigen, die Leute wieder ins Fahrwasser kommen. Ganz zurückdrehen kann man diese Entwicklung nicht. Ich glaube, dass dieses Land von der Konstruktion her nur auf der Basis der nationalen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs mit Tod, Vertreibung, Hunger entstehen konnte. Dieses kollektive Erlebnis hat dazu geführt, dass sich die Menschen besonnen haben, worauf es eigentlich ankommt. Das hat diesen nationalen Konsens über ideologische Grenzen hinweg ermöglicht. Heute wäre das nicht mehr möglich, da sind wir weit weg davon.
»Das ist der helle Wahnsinn, wir haben doch gar keine Zeit«
Befürchten Sie, dass die Stimmung in den kommenden Monaten noch aggressiver wird, wenn in Reutlingen die Lichter ausgehen, die Wohnungen kalt bleiben und als Folge des Ukraine-Krieges die Flüchtlingsdebatte möglicherweise wieder hochkocht?
Keck: Nicht möglicherweise, das wird so sicher kommen wie das Amen in der Kirche. Wir haben jetzt schon in Baden-Württemberg mehr Flüchtlinge als 2015. Allein in Reutlingen werden wir bis zum Jahresende noch über 300 Menschen aufnehmen müssen. Wir werden nicht umhinkommen, irgendwann ab Oktober die ersten Festhallen zu belegen. Und zwar mit Dauerunterbringung, wofür die Hallen ungeeignet sind. Soziale Konflikte sind programmiert.
Wie bewerten Sie die Unterstützung von Land und Bund in dieser Frage?
Keck: Ich habe mich noch nie so allein gelassen gefühlt als Kommune wie jetzt in dieser Sache. Das ist so was von übel, uns hilft niemand. Von der Landesregierung gibt es nichts, allenfalls ein Progrämmchen zur Förderung des Baus von Flüchtlingsunterkünften mit 80 Millionen Euro fürs ganze Land. Die Kommunen müssen aber Eigenanteile einbringen. Doch wir in Reutlingen sind finanziell so schwach aufgestellt, dass wir diese Eigenanteile gar nicht aufbringen und deshalb nicht mal dieses Mini-Programm abrufen können. Die Instrumentarien passen auch gar nicht mehr. Beim Bau von Flüchtlingsunterkünften sollten wir beispielsweise direkt vergeben können und nicht auch noch in große Vergabeverfahren einsteigen müssen. Das ist der helle Wahnsinn, wir haben doch gar keine Zeit.
Bezieht sich Ihre Kritik auch auf die Energiekrise?
Keck: Ja. Man kann nicht warten, bis eine Bund-Länder-Kommission irgendwann im März 2023 irgendein Papier verabschiedet. Es braucht Cash, und zwar in den nächsten sechs Wochen. Es wird überall schwieriger. Die Stadtwerke sind in schwerem Wasser, kleineren droht die Insolvenz. Wir können auch in Reutlingen überhaupt nicht sagen, wie es weitergeht. Bei der Tochterfirma, die früher Millionen an die Stadt abgeführt hat, müssen wir jetzt schauen, dass sie überlebt.

Mit was für Einschränkungen müssen die Reutlinger in diesem Winter rechnen? Sind Wärmestuben für Bürger, die sich die Heizung nicht mehr leisten können, ein Szenario?
Keck: Das ist ein Szenario. Ich hoffe nicht, dass es so weit kommt. Wir haben einen Krisenstab, der sich mit diesen Fragen befasst. Es gibt Planungen für Wärmeinseln in Hallen. Sie würden in Kraft treten, wenn der Gashahn zugeht und nichts mehr ankommt.
Um noch mal auf unsere Frage zurückzukommen: Erwarten Sie vor diesen Szenarien, dass die Stimmung noch schlechter wird?
Keck: Das kann ich mir in der Tat sehr gut vorstellen – wenn die sogenannte große Politik nicht sagt, jetzt lassen wir unseren ganzen ideologischen Käse mal hintendran, es muss um Krisenbewältigung gehen und darum, was dieses Land jetzt braucht. Wenn das nicht passiert, wird sich die Bevölkerung weiter abwenden. Mit allen negativen Folgen. Ich mache mir auch große Sorgen, dass radikale Kräfte insbesondere am rechten Rand dadurch erstarken. Es ist immer das Gleiche: Einfachste Lösungen für schwierigste Fragestellungen, die gar nicht funktionieren können, aber als Hoffnungsast dienen, an den sich die Leute klammern. Das hat schon mal funktioniert, 1933...
Haben Sie Ideen oder Ansätze, wie man auf lokaler Ebene die Leute einfangen könnte?
Keck: Wenn wir viel Geld hätten, würden wir aus eigener Kraft das eine oder andere lindern können. Gesellschaftliche Fehlentwicklungen korrigieren können wir nicht. Ich werde versuchen, mit der Stadtgesellschaft im Gespräch zu bleiben, die Ehrenamtlichen bei der Stange zu halten und dass trotz der Finanzkrise die geschaffenen Strukturen nicht kaputt gehen. Aber materiell können wir bei unserer Haushaltslage nichts tun. Es ist eine prekäre Situation, in der mehrere katastrophale Entwicklungen zusammenkommen. Deshalb die dringende Bitte nach oben: Wir brauchen finanzielle Mittel, nicht nur hier in Reutlingen.
Sehen Sie Licht am Ende des Tunnels?
Keck: Vor Kriegsausbruch hätte ich gesagt, dass es ab 2024 spürbar raus aus der Talsohle geht. Jetzt kann ich diese Aussage nicht mehr aufrechterhalten, weil ich nur noch Abwärtsbewegungen sehe. (GEA)