REUTLINGEN. Coronakrise, Flüchtlingskrise, Energiekrise, Klimakrise: Der Reutlinger Oberbürgermeister Thomas Keck hat sich seit seinem Amtsantritt am 3. April 2019 vor allem mit Krisenmanagement beschäftigt. Zum Anpfiff seiner zweiten Halbzeit hat sich der GEA mit dem Stadtoberhaupt unterhalten über die vielen Wenden, die er vorantreiben soll, über die vielen Pläne und Projekte, für die der Stadt viel zu viel Geld fehlt – und warum der OB den Job immer noch mag-
GEA: Macht’s noch Spaß?
Keck: Meine Bilanz ist trotz der ganzen Krisen und negativen Momente immer noch positiv. Ich mache das unheimlich gerne. Das ist Hobby und Beruf zugleich. Und dann muss ich noch sagen: »Ich bin kein normaler Bürgermeister.« Keiner, der dauernd danach schaut, ob es in einer anderen Stadt einen besseren Posten gibt. Ich wäre nirgendwo anders angetreten. Das ist meine Heimatstadt. Hier kenne ich fast jeden Stein. Für diese Stadt tue ich alles. So gut ich es kann.
Nicht auszudenken, was Sie alles täten, wenn Sie Geld hätten …
Keck: Man kann sich das nicht aussuchen. Die leere Stadtkasse schränkt den Spaßfaktor natürlich deutlich ein.
Gab es eine Situation, in der Sie persönlich an ihre Grenzen gekommen sind?
Keck: Es gab Situationen, in denen man emotional überfordert ist. Der Brand im Gaisbühl mit drei Toten war so eine Sache.
Mit den Krisen gehen Anforderungen einher, die meist mit dem Wort »Wende« enden. Die Umsetzung findet in den Kommunen statt. Fühlen sie sich von Bund und Land genug unterstützt?
Keck: Nein, in keiner Weise. Es gibt kein Gebiet, auf dem wir ausreichend unterstützt werden. Das meiste sind nur Lippenbekenntnisse.
Was brauchen Sie vor allem?
Keck: Zunächst vor allem Geld. Für die Nachhaltigkeitspolitik, aber auch für die allgemeine Aufgabenerfüllung wie Schulsanierung, Kinderbetreuung, die Infrastruktur. Die Zahl der Städte und Gemeinden in Deutschland, die immer weniger in der Lage sein werden, das aus eigener Kraft zu leisten, wird drastisch ansteigen. Flüchtlingspolitik ist ein Musterbeispiel. Da legt Baden-Württemberg ein Progrämmchen mit 80 Millionen Euro Baukostenzuschuss auf. Fürs ganze Land: an sich schon ein Nasenwasser. Die Kriterien sind so, dass kaum eine Kommune in den Genuss kommt. Und ich muss Eigenmittel bringen. Weil ich die nicht habe, kriege ich nichts. Wir bräuchten aber auch mehr politischen Bewegungsspielraum.
Man hat oft den Eindruck, dass Sie den politischen Handlungsspielraum gar nicht so richtig ausnutzen. Tübingen wirkt da entschlossener.
Keck: Wenn Sie damit meinen, dass ich eine Verpackungssteuer einführe, obwohl ich weiß, dass sie rechtlich fragwürdig ist, hat das nichts mit Tatendrang zu tun. Ich glaube, dass ich den Spielraum ausnutze unter den lokalpolitischen Mehrheiten, die ich habe. Andere haben andere Mehrheiten, mit denen anderes geht.
Hätten Sie gerne einen anderen Gemeinderat?
Keck: Ich habe den Gemeinderat, den die Wähler gewählt haben. Ich war selbst 25 Jahre Mitglied dieses Gremiums, und ich behaupte, dass der Ge-meinderat noch nie so mitgenommen worden ist wie unter mir als OB. Aber ich finde, das wird mal mehr, mal weniger honoriert.
Stören Sie eigentlich die dauernden Vergleiche mit Tübingen?
Keck: Reutlingen konkurriert nicht mit Tübingen und ich nicht mit Boris Palmer. Die Städte sind völlig unterschiedlich von der Struktur und der Polung der Menschen her. Die Vergleiche sind manchmal lästig, das stimmt. Die gemeinsame Nennung mit Tübingen auf dem Autobahnschild war aber okay. Die will ich wieder haben.
»Für diese Stadt tue ich alles. So gut ich es kann«
Ganz nebenbei sollen Sie ja noch die Wärmewende machen. Wie geht die in Reutlingen vonstatten?
Keck: Grundlinie ist der massive Ausbau der Fernwärme. Da wollen wir so viel wie möglich investieren. Ab 2027 wollen wir Abwasserwärme aus der Kläranlage West gewinnen: Bis zu 55 Gigawattstunden pro Jahr – der Verbrauch von etwa 5 500 durchschnittlichen Haushalten – könnten ins Netz eingespeist werden und dort bis zu 60 Prozent gasgenerierte Fernwärme ersetzen. Und ich hoffe, noch eine Finesse draufzusetzen, indem wir zusätzlich Methan und Lachgas absaugen und nutzen.
Von der Fair-Energie hört man aber nicht, dass sie massiv im Ausbau der Fernwärme unterwegs wäre?
Keck: Im Moment noch nicht, aber das ist in der Pipeline.
Und wenn bis dahin alle eine Wärmepumpe haben?
Keck: Den Wärmepumpen-Hype halte ich für überbewertet. Sie kriegen ja derzeit kaum eine. Und nur ein Teil der Gebäude ist dafür überhaupt geeignet.
Jeder Bürger, der sich’s leisten kann, strebt nach Energieautarkie. Wie wollen Sie den Stadtversorger stark halten, der mit Gewinnen aus Strom- und Gasverkauf beispielsweise die Bäder quer-finanziert?
Keck: Die Fair-Energie wird man immer brauchen. Die steht nicht still. Da kommt noch manches, wenn sich die Finanzlage des Unternehmens wieder verbessert. Die Stadtwerke müssen dann auch stärker als bisher in Fotovoltaik, Windkraft und Geothermie gehen.
Wie forcieren Sie die Energiewende als Aufsichtsratsvorsitzender?
Keck: Wir gucken, mit wie viel Finanzkraft wir in welche Projekte hineingehen können und in welche Beteiligungen. Konkretes aus dem Aufsichtsrat darf ich Ihnen leider noch nicht erzählen. Die Energieversorgung ist ja auch für die Industrie ein zentrales Problem: Wir können nicht warten, bis der Strom aus dem Norden kommt. Wenn wir im Süden nicht aufpassen, laufen wir in ein negatives Nord-Südgefälle rein: Die Wirtschaft wird dorthin gehen, wo die Energie ist.
Zur Verkehrswende: Sang- und klanglos fiel im Dezember die Einweihung von Reutlingens ersten beiden Stadtbahnhaltestellen Bösmannsäcker und RT-Unlimited aus wegen Stellwerkproblemen. Erms-Neckar-Bahn (ENAG) und Deutsche Bahn schieben sich gegenseitig die Schuld dafür zu. Wann gehen die Haltestellen denn nun die Betrieb?
Keck: Ich bin genauso aus allen Wolken gefallen wie Sie. Ich wusste das nicht. Mit diesen Dingen hat der Stadtbahn-Zweckverband die ENAG beauftragt.
Wird Ihnen nicht bang mit Ihrer Stadtbahn, wenn das so losgeht?
Keck: Wir versuchen, die Dinge über die ENAG ins Rollen zu bringen. Klar ist: Wenn ich fertige Haltestellen habe, will ich, dass sie funktionieren. Das ist unbefriedigend so.
Wenig befriedigend ist sicher auch, im Gemeinderat mit dem konservativen Block immer wieder die gleichen Verkehrsschnipsel zu diskutieren wie die Spurverengung auf der Lederstraße oder die Einbahnstraßenregelung in der Charlottenstraße. Sprechen Sie im nächsten Bauausschuss ein Machtwort?
Keck: Die Ergebnisse zur Untersuchung der Charlottenstraße kommunizieren wir voraussichtlich am 18. April. Die Spursperrung auf dem Ledergraben läuft über den Luftreinhalteplan des Landes Baden-Württemberg. Dafür ist das Regierungspräsidium Tübingen zuständig. Wir werden dazu ebenfalls am 18. April Ergebnisse liefern können. Wir sind übrigens aktuell nicht so weit vom Grenzwert entfernt. Und wenn wir drüber sind, reden wir ganz schnell wieder über Dieselfahrverbote.
Fehlt vielleicht ein Gesamtplan für den Verkehr in Reutlingen, der den Bürgern zeigt, wo es eigentlich hingehen soll?
Keck: Es wird einen Mobilitätsplan geben. Die Ermittlung der Grundlagen ist beauftragt. Noch dieses Jahr wird es Verkehrserhebungen und Haushaltsbefragungen geben. Mit den Basisdaten können wir dann in die Planung gehen.
»Der Gemeinderat wurde noch nie so mitgenommen wie unter mir als OB«
Apropos Verkehrswende: Die Fair-Energie bietet in Reutlingen gerade mal zwei Schnell-Ladestationen für E-Autos an. Maximale Leistung: schlappe 50 kW.
Keck: Die Fair-Energie weiß um die Notwendigkeit, die Ladeinfrastruktur weiter auszubauen.
Was ist denn Ihre Priorität im Verkehr? In Reutlingen herrscht der Eindruck, dass alle Verkehrsarten irgendwie gleichberechtigt behandelt werden sollen.
Keck: Ich will, dass Bürger schnell, günstig und klimaschonend unterwegs sind zu Fuß, im ÖPNV und mit dem Rad.
Zur Klimawende soll die »Biosphären-Stadt Reutlingen« beitragen. Erklären Sie doch mal in fünf Sätzen, was der Unterschied »Reutlingen heute« und »Biosphärenstadt Reutlingen« ist.
Keck: Ich weiß, dass sich die Leute wenig darunter vorstellen können. Schon der Begriff ist sperrig, aber er ist positiv besetzt und wird natürlich auch fürs Marketing benutzt. Inhaltlich ist es ein Nachhaltigkeitsprogramm, das anleitet, wie man in einem definierten Gebiet gut leben kann, ohne natürliche Lebensgrundlagen zu zerstören.
Muss das nicht jede Stadt forcieren?
Keck:Wir profitieren dabei von einem UNESCO-Programm. Vom Imagegewinn über Zuschüsse bis hin zu einem leichteren Zu-gang der Konsumenten zu regionalen Produkten: Das Biosphärengebiet ist ein Mosaik mit kleineren und größeren Steinchen, die zusammen ein Gesamtbild ergeben.
Was tun Sie nachhaltig für junge Menschen? Diese Zielgruppe moniert ja immer wieder, dass die Innenstadt unattraktiv sei.
Keck: Ist sie wirklich nicht attraktiv oder ist das eher eine Haltung, zu sagen »Stadt mach mal«? Ich glaube, dass die Innenstadt während der Coronakrise zum Beispiel durch die Ausweitung der Gastronomieflächen am Marktplatz an Attraktivität gewonnen hat. Ich habe ein fertiges Programm zur Umgestaltung des Marktplatzes in der Schublade, aber das ist aus finanziellen Gründen momentan nicht realisierbar. Wir müssen niederschwellige Verbesserungen anstreben. Stadtmöblierung ist ein Thema, bestimmte Bepflanzungen. Junge Leute wünschen sich Aufenthaltsflächen ohne Konsumzwang. Ich habe vor Kurzem ein paar Jugendliche, die auch bei Fridays for Future aktiv sind, zum Gespräch eingeladen und zu ihnen gesagt: Ihr habt vollkommen recht mit euren Forderungen. Aber ihr könnt auch selber etwas Konkretes beitragen, etwa ein Gießprojekt für Bäume in der Innenstadt.
Beim GEA-Kandidatencheck vor der Wahl haben Sie gesagt, »wir brauchen Bauland, Bauland, Bauland.«
Keck: Bauland hätten wir. Katastrophal, abartig sind die Baupreisentwicklung und die Explosion der Materialkosten. Ich denke, dass wir es hier durchaus auch mit Bereicherungseffekten zu tun haben.
Wie viele Wohnungen sind in Ihrer Amtszeit entstanden?
Keck: Damit bin ich nicht zufrieden. Das tut mir richtig weh. Es gab in den letzten vier Jahren knapp 1 900 Baugenehmigungen. Davon ist zwar ein erheblicher Teil umgesetzt worden, aber eher Kleinvieh – bis auf das Blue Village. Ich habe getan, was ich tun konnte. Und wir haben die Ziele der Reutlinger Wohnungsgesellschaft GWG Ende 2022 neu definiert. Unter anderem haben wir festgelegt, dass die GWG mindestens 70 Prozent der geplanten Wohnungen im sozialen Mietwohnungsbau schaffen soll.
Wenn Ihnen das Thema so wichtig ist: Wieso haben Sie mit der Änderung dieser Zielvorgabe vier Jahre gewartet?
Keck: Da gab es gewisse Vorgänge bei der GWG, über die ich hier nicht reden kann, die nicht gut gelaufen sind. Und dann sind uns die erwähnten Krisen dazwischen gekommen. Es ist aber allein schon aufgrund der Baupreise ein Irrglaube, zu denken, man kann das gesamte Wohnungsproblem allein mit der GWG lösen. Im Moment kostet der Quadratmeter etwa 6 000 Euro. Das ist nicht finanzierbar.
Sie hatten vorm Amtsantritt gesagt, dass wir viel mehr Gewerbe brauchen. Wie viele Firmen haben Sie angelockt?
Keck: Ich bemühe mich stark um Ansiedlung von Wirtschaft, denn nur so kommen wir aus unserem Gewerbesteuerloch heraus. Wir haben Cellforce Porsche in Mahden an Land gezogen mit 230 Arbeitsplätzen im ersten Aufschlag. Wir bauen gerade ein neues Gebäude im Technologiepark Reutlingen-Tübingen. In Mittelstadt wird Kion erweitern. In Mahden trägt sich Kärcher mit demselben Gedanken. Romina erweitert in Rommelsbach. Das Heinzelmann-Areal steht vor der Baufreigabe. Aber die Gewerbeflächennot ist weiterhin groß. Es vergeht eigentlich keine Woche, ohne dass ich Anfragen bekomme. Die meisten Firmen wollen jedoch sehr viel größere Flächen als wir anbieten können.
Werden sich die finanziellen Spielräume der Stadt absehbar verbessern?
Keck: Sie werden sich ganz langsam verbessern. Gewerbe- und Einkommenssteuer werden voraussichtlich leicht ansteigen. Aber ich sehe mit Sorge, was sich im Tarifbereich tut. Jedes Prozent Erhöhung drückt sich bei uns in Hunderttausenden oder gar Millionen Euro aus. Ich rechne mit einem Abschluss von rund acht Prozent. Sollten es zehn werden, wird es schwierig, dem Regierungspräsidium einen genehmigungsfähigen Haushalt vorzulegen.
Werden Sie in vier Jahren noch mal kandidieren?
Keck: Wenn ich gesund bleibe, die Leute mich noch wollen und meine Familie mitmacht, kann ich es mir vorstellen. Fragen Sie mich in zwei Jahren noch mal. Ideen habe ich genug. (GEA)