»Erschreckend viele Kinder können nicht mal mehr einen Purzelbaum schlagen«Die Vorstellung der netten kleinen »Indoor«-Baustelle nutzte Oberbürgermeisterin Barbara Bosch, um eine Bilanz der Sportentwicklungsplanung zu ziehen. »Die Hausaufgaben sind gemacht, die weitere Umsetzung kommt in den folgenden Jahren.« Ganz wichtig sind aus ihrer Sicht die Maßnahmen, die die Kinder in den Fokus rücken. »Kinder bewegen sich zu wenig, erschreckend viele können nicht mal mehr einen Purzelbaum schlagen – da fehlen die einfachsten motorischen Fähigkeiten.«
Eine Einschätzung, die Dr. Benjamin Haar von der Arbeitsgemeinschaft Reutlinger Sportvereine (ARS) nur bestätigen kann. Weil Bewegungsmangel auch mit dem Sozialstatus zusammenhänge, sei es goldrichtig, in Kindergärten und Schulen anzusetzen. »Da erreicht man alle, das können Vereine nicht leisten.« Kinder hätten ein Recht auf Schürfwunden, blutige Nasen und Beulen. »Sie müssen lernen, was sie können und nicht können.« Eher unblutig das Motto, das Kariane Höhn, Leiterin der Abteilung Tagesbetreuung für Kinder, ausgab: »Wer sich nicht bewegt, bleibt sitzen.« Bewegung habe nicht nur mit körperlicher Gesundheit zu tun. Seelische Ausgeglichenheit, soziales Miteinander und vieles mehr seien die positiven Nebeneffekte.
4 500 kleine Reutlinger besuchen derzeit die Kindergärten, 3 000 gehen in städtische Tageseinrichtungen. Und nicht alle Domizile haben grüne Außenbereiche, in denen die Kinder spielen und toben können. Wie das in der Nürtingerhofstraße. »Die Kinder werden hergekarrt und abgeholt, der Weg kann sie nicht beanspruchen«, so Höhn. Deshalb der Ansatz, gerade »in beengten Räumen einen bewegten Alltag zu schaffen«.
»Die Kinder werden hergekarrt und abgeholt, der Weg kann sie nicht beanspruchen«Nicht nur der Kindergarten Nürtingerhofstraße liegt mitten in der Stadt, dort wohnen auch die meisten Eltern, informierte die Leiterin Nevin Özyilmaz. Oft in kleinen Wohnungen, ohne Garten. »Deshalb ist es so wichtig, hier Bewegungsmöglichkeiten anzubieten.« Kinder aus 14 bis 15 verschiedenen Nationen tummeln sich in der städtischen Einrichtung. Das spezielle Bewegungsangebot bedeute auch ein Stück Chancengleichheit, so Özyilmaz.
Das pädagogische »Baustellen«-Konzept erläuterte Beate Rist vom Fachdienst für Bewegung. Ausgestattet ist der ehemalige Turnraum im Kindergarten Nürtingerhofstraße mit Materialen nach Elfriede Hengstenberg, einer Pädagogin, die gesegnete hundert Jahre alt wurde: Einfache Holzgeräte, die in sich kombinierbar sind und die Experimentierfreude der Kinder herausfordern, so Beate Rist. Sie selbst war nicht nur an der Konzeption maßgeblich beteiligt, sondern schaut auch regelmäßig in der Nürtingerhofstraße vorbei.
Der Raum steht den Kindern den ganzen Tag zur Verfügung – freilich nicht ohne Beaufsichtigung. Der Bewegungsdrang der Jungs und Mädchen ist unterschiedlich ausgeprägt, sagt Beate Rist: »Manche bleiben zehn Minuten, andere eine ganze Stunde.« Ob Balancieren auf Stangen, Erklimmen von Sprossen oder Überwinden von Hindernissen: die Kinder machten nicht nur große Fortschritte, so die Pädagogin, sondern seien auch mit Begeisterung dabei. »Sie gewinnen mehr Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein.« (GEA)