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Aktuell Kriminalität

Reichsbürger-Milieu: Reutlingen ist kein Schwerpunkt

Schüsse eines mutmaßlichen Reichsbürgers in Reutlingen auf einen SEK-Beamten, Festnahmen in Tübingen, Razzien auf der Alb – ist die Region eine Hochburg der Szene? Nein, sagt der Verfassungsschutz. Doch Zahlen für die Landkreise nennt er nicht. Was das für Gründe hat.

Reutlingen Ende März im Ausnahmezustand: Bei einer Reichsbürger-Razzia im Ringelbach schoss der Verdächtige auf einen SEK-Beamte
Reutlingen Ende März im Ausnahmezustand: Bei einer Reichsbürger-Razzia im Ringelbach schoss der Verdächtige auf einen SEK-Beamten. Foto: Steffen Schanz/GEA-Repro
Reutlingen Ende März im Ausnahmezustand: Bei einer Reichsbürger-Razzia im Ringelbach schoss der Verdächtige auf einen SEK-Beamten.
Foto: Steffen Schanz/GEA-Repro

REUTLINGEN. Wegen der »Reichsbürger«-Razzia am 22. März, bei der der Verdächtige Markus L. im Ringelbach auf einen SEK-Beamten schießt, gerät Reutlingen bundesweit in die Schlagzeilen. Am selben Tag gibt es eine zweite Durchsuchung in Altenburg. Sie verläuft weniger dramatisch, sorgt wegen des Großaufgebots von SEK-Beamten aber für Aufsehen im Ort. Im Juni folgen deutschlandweit weitere Razzien, wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung werden auch Wohnungen mutmaßlicher »Reichsbürger« in St. Johann und Tübingen durchsucht. Und schon im Dezember gibt es im Zusammenhang mit der ersten »Reichsbürger«-Großrazzia im Raum Tübingen drei Festnahmen, bei den Verdächtigen soll es sich um Rädelsführer handeln. Eine Häufung, die gleich mehrere GEA-Leser fragen lässt, wie groß die »Reichsbürger«-Szene in der Region eigentlich ist.

»Schwer zu sagen, da gibt’s ja keine Mitgliederlisten«, meint Andrea Kopp, Pressesprecherin des Polizeipräsidiums Reutlingen. Die Erfassung ist schon deshalb schwierig, weil es sich um ein »heterogenes Milieu« und Einzelpersonen handelt, die »überwiegend« nicht in Gruppen organisiert sind, wie es im Verfassungsschutzbericht 2022 für Baden-Württemberg heißt. Was »Reichsbürger« und »Selbstverwalter« aber gemeinsam haben: Sie leugnen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und ihres Rechtssystems. Schon deshalb fallen sie relativ früh auf – weil sie beispielsweise Strafzettel nicht zahlen oder Widerstand gegen staatliche Maßnahmen wie Polizeikontrollen leisten. »Bestimmte Äußerungen und Verhaltensweisen lassen darauf schließen, dass die Person mit der Reichsbürgerszene sympathisiert«, fasst Kopp zusammen.

Niedriger dreistelliger Bereich

Verdachtsfälle können sich konkretisieren oder entkräften. Auch deshalb nennt das Polizeipräsidium nur eine ungefähre Größenordnung: Das Personenpotenzial der »Reichsbürger« im Präsidiumsbereich mit den Landkreisen Reutlingen, Tübingen, Esslingen und Zollern-Alb liegt laut Andrea Kopp im niedrigen, dreistelligen Bereich. Erkenntnisse, die dazu führen, dass die Polizei Personen dem »Reichsbürger«-Milieu zuordnet, können aus Straf- und Bußgeldverfahren gewonnen werden, erklärt die Pressesprecherin. Einschlägige Schreiben an Behörden, bestimmte Verhaltensweisen bei Kontrollen oder Kontakten mit der Polizei gelten als Anhaltspunkte. Aufschlussreich können auch Amtshilfen der Polizei sein, etwa für die Waffenbehörde oder den Gerichtsvollzieher bei Räumungen.

Die Größe der »Reichsbürger«- und »Selbstverwalter«-Szene zu benennen, ist auch wegen der unterschiedlichen Zuständigkeiten nicht ganz einfach. Das Polizeipräsidium ermittelt bei Straftaten – auch von Reichsbürgern – in seinem Zuständigkeitsbereich. Das Landeskriminalamt übernimmt »umfangreiche, herausragende oder überregionale Ermittlungen«. Das Bundeskriminalamt (BKA) ist neben anderen Deliktbereichen am Zug, wenn es um die Bildung oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung geht, wie es den Verdächtigen um Heinrich Prinz Preuß vorgeworfen wird, die bei der ersten »Reichsbürger«-Großrazzia im Dezember festgenommenen wurden. Das BKA ermittelt im Auftrag des Generalbundesanwaltes wegen der »besonderer Bedeutung des Falles« auch gegen Markus L.

Keine Zahlen zu Landkreisen

Speziell unter die Lupe genommen werden »Reichsbürger« und »Selbstverwalter« vom Verfassungsschutz, der die Szene seit 2016 als »Extremismusbereich eigener Art« beobachtet. Und Zahlen nennt: Deutschlandweit rechnet er dem Milieu etwa 23.000 Personen zu, auf Landesebene 3.800 Personen. Auf Nachfrage gibt das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg eine weitere Größenordnung an, nämlich 800 Personen für den Regierungsbezirk Tübingen, der bis zum Bodensee reicht und acht Land- und einen Stadtkreis umfasst. Konkreter wird er aber nicht. Die Behörde veröffentliche grundsätzlich im Zusammenhang mit dem Milieu der »Reichsbürger« und »Selbstverwalter« keine Zahlen zu einzelnen Landkreisen, erklärt ein Pressesprecher und nennt als Grund: »Hierzu liegen keine belastbaren Aussagen vor.«

Ermittlungen gegen Markus L. dauern an

Die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen Markus L., der am 22. März bei einer Reichsbürger-Razzia im Ringelbach auf einen SEK-Beamten geschossen hat, dauern an. Der Mann sitzt in U-Haft, der Tatvorwurf lautet mehrfacher versuchter Mord und gefährliche Körperverletzung.
Bei der länderübergreifenden Razzia wurde am selben Tag eine Wohnung in Altenburg durchsucht. Bei der Zielperson habe es sich nicht um einen Verdächtigen oder Beschuldigten, sondern um einen Zeugen gehandelt, so eine Sprecherin der obersten Anklagebehörde. Sie bestätigt auch, dass die Durchsuchung am 20. Juni in St. Johann im Zusammenhang mit dem Reichsbürger-Verfahren steht, das seit der Großrazzia am 3. Dezember 2021 läuft. Verhaftet worden sei niemand. Die drei Verdächtigen aus dem Raum Tübingen, die im Dezember festgenommen wurden und bei denen es sich um Rädelsführer handeln soll, sitzen nach wie vor in U-Haft. (keg)

Denn der Verfassungsschutz beobachtet nicht nur selbst Gruppierungen, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder die Sicherheit des Landes gefährden könnten, sondern ist zudem auf Informationen von den Behörden vor Ort angewiesen – auch bei Sachverhalten mit Bezug zu »Reichsbürgern« und »Selbstverwaltern«, wie es in einer Handreichung für Beschäftigte im öffentlichen Dienst heißt. Das Meldeaufkommen der ortsansässigen Behörden schwanke aber stark, was bei einer weiteren Ausdifferenzierung verzerrend wirke, erklärt der Pressesprecher, warum der Verfassungsschutz keine genaueren Angaben zu den Landkreisen macht.

Allgemein lasse sich festhalten, dass ländliche Regionen tendenziell ein höheres Aufkommen von »Reichsbürgern« und »Selbstverwaltern« aufweisen als Stadtkreise, so der Sprecher weiter. »Die Region Reutlingen ist allerdings kein Schwerpunkt des Milieus.« Auch verzeichne man in Reutlingen vergleichsweise wenig Aktivitäten von »Reichsbürger«-Gruppierungen. »Unabhängig davon gibt es vor Ort einzelne «Reichsbürger», die in Gruppierungen wie dem «Königreich Deutschland» (KRD) oder der «Verfassunggebenden Versammlung» (VV) beziehungsweise «Wenea» aktiv sind.«

Gefahr der Eskalation

Die Gefahr, die von »Reichsbürgern« und »Selbstverwaltern« ausgeht, schätze der Verfassungsschutz Baden-Württemberg bereits seit Beginn der Beobachtung im Jahr 2016 unverändert als hoch ein – vor allem wegen der Waffenaffinität innerhalb der Szene. »Etwa zehn Prozent der bekannten Milieuangehörigen befürworten den Einsatz von Gewalt. Kennzeichnend für diese extremistische Szene ist auch der Hang zum Widerstand gegen staatliches Handeln.«

Insbesondere bei als existenziell wahrgenommenen staatlichen Eingriffen – etwa einer Pfändung, Zwangsräumung oder bei einem Waffenentzug – bestehe nach Einschätzung des baden-württembergischen Verfassungsschutzes die Gefahr einer »gewaltbezogenen Eskalation« durch »Reichsbürger« und »Selbstverwalter«. Aber, so der Sprecher des Landesamtes: »Diese Gefährdungseinschätzung bezieht sich auf das Milieu im gesamten Land, nicht auf die Region Reutlingen oder den Regierungsbezirk Tübingen im Speziellen.« (GEA)