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Prozessauftakt: So tickt der Reutlinger Reichsbürger

Markus L. hatte im März 2023 das Feuer auf SEK-Beamte eröffnet. Er soll zur Reichsbürger-Gruppe um Prinz Reuß gehören. Nun muss er sich mit acht anderen Angeklagten vor dem Oberlandesgericht Stuttgart verantworten. Beim Prozessauftakt werden erschreckende Details zu den mutmaßlichen Plänen der Gruppe und zu L.'s Angriff auf die SEK-Männer bekannt.

In Handschellen und hinter dickem Glas: Die Angeklagten eines Prozesses in Stuttgart sind stark gesichert.
In Handschellen und hinter dickem Glas: Die Angeklagten eines Prozesses in Stuttgart sind stark gesichert. Foto: Bernd Weißbrod/dpa
In Handschellen und hinter dickem Glas: Die Angeklagten eines Prozesses in Stuttgart sind stark gesichert.
Foto: Bernd Weißbrod/dpa

REUTLINGEN/STUTTGART. Als die Beamten des Spezialeinsatzkommandos am 22. März 2023 um 6 Uhr morgens die Eingangstür des Hauses in der Peter-Rosegger-Straße sprengten war Markus L. bereits vorbereitet. Nach den ersten Verhaftungen um die sogenannte »Reuß-Gruppe« war ihm klar geworden, dass sich die Schlinge um das Netzwerk zuzieht. Festnehmen lassen wollte er sich aber auf keinen Fall. Und so positionierte er mehrere geladene Schusswaffen in seinem Auto, seinem Wohn- und seinem Schlafzimmer. Als die SEK-Beamten an diesem Morgen zur Durchsuchung anrückten, eskalierte die Situation.

Was die beiden Vertreter der Bundesanwaltschaft, Michael Klemm und Kathrin Tandler, an diesem Montagmorgen im Sitzungssaal 1 des Oberlandesgerichts Stuttgart minutenlang verlesen, klingt im besten Fall wie aus einem Hollywood-Blockbuster. Im schlechtesten Fall wirklich beunruhigend. Unter großem Medieninteresse und großen Sicherheitsvorkehrungen startet in Stammheim der Prozess gegen den sogenannten militärischen Arm der Reichsbürger-Vereinigung um Heinrich XIII. Prinz Reuß. Die Beschuldigten sollen vorgehabt haben, das politische System in Deutschland zu stürzen, so die Anklage. Der militärische Arm habe die geplante Machtübernahme mit Waffengewalt durchsetzen sollen. Neun Männer sind in Stuttgart angeklagt, alle zwischen 42 und 60 Jahre alt.

Nach der Schießerei im Ringelbachgebiet im März 2023: Einsatz eines Roboters,  der im Zusammenhang mit Sprengstoff eingesetzt wi
Nach der Schießerei im Ringelbachgebiet im März 2023: Einsatz eines Roboters, der im Zusammenhang mit Sprengstoff eingesetzt wird. Foto: Steffen Schanz
Nach der Schießerei im Ringelbachgebiet im März 2023: Einsatz eines Roboters, der im Zusammenhang mit Sprengstoff eingesetzt wird.
Foto: Steffen Schanz

Einer von ihnen ist der Reutlinger Sportschütze Markus L - er wirkt unscheinbar. L. ist etwas untersetzt, trägt ein olivgrünes Shirt und eine unauffällige Brille, spricht ruhig. Während die anderen Angeklagten, die alle hinter dickem Panzerglas sitzen, stellenweise ins Publikum winken und die Verhandlung mit breiter Brust verfolgen, fällt er kaum auf. Was ihm vorgeworfen wird, kann man sich aber nur schwer vorstellen. Nachdem die SEK-Beamten an diesem 22. März 2023 die Haustüre gesprengt hatten, traten sie - nachdem sich L. auch auf mehrfaches Rufen hin nicht gemeldet hatte - seine Wohnungstüre ein. Als zwei von ihnen das Wohnzimmer betraten, lag er auf dem Sofa. Hinter einem Drehsessel versteckt, »in Erwartung eines Feuergefechts«, eine halbautomatische Langwaffe, die er selbst zusammengebaut hatte, im Anschlag. Die SEK-Beamten forderten ihn auf, die Waffe niederzulegen. Was er nicht tat.

Also schoss ein SEK-Mann, »er wollte einen aus seiner Sicht unmittelbar bevorstehenden Angriff abwehren«, so die Anklageschrift. L. erwiderte das Feuer. Zehn Schüsse von ihm, 16 von den SEK-Beamten. Eine Kugel durchschlug das rechte Ellenbogengelenk eines SEK’lers. Trümmerfraktur, er wird wohl nie wieder in seinem Job arbeiten können. Sein Kollege wurde an der Hand verletzt. Die Beamten zogen sich zurück und verschanzten sich in der Wohnung des Nachbarn. »37 Minuten nach Tat verließ L., nach einem Telefonat mit seiner Mutter, die Wohnung und konnte festgenommen werden.« So beendet Staatsanwältin Tandler die Schilderung dieses Vorfalls, der Reutlingen mehrere Tage lang in Atem gehalten hatte.

Eigentlich keine Festnahme geplant

Eigentlich hatte man L.'s Wohnung nur durchsuchen wollen, es war keine Festnahme geplant. Im Zuge der Ermittlungen gegen die Reichsbürger-Gruppe war eine Verschwiegenheitserklärung mit seinem Namen aufgetaucht. Mit dieser Erklärung verpflichteten sich die Mitglieder der Reichsbürger-Gruppe zur absoluten Geheimhaltung bezüglich ihrer Pläne, ein Verstoß sollte mit der Todesstrafe geahndet werden. Auch in Altenburg fand am selben Tag eine Durchsuchung statt, ohne Festnahme.

Doch die Bundesanwaltschaft wirft Markus L. mittlerweile vor, alles andere als nur ein Mitläufer gewesen zu sein. Er stieß vermutlich im Juli 2022 zur Vereinigung und war Mitglied in einer »Veteranen«-Telegramgruppe von Matthias H. Dieser wohnte bis zu seiner Verhaftung im Rottenburger Teilort Baisingen, und nutzte seine militärischen Kontakte laut Anklage dazu, »kampfbereite Männer zu rekrutieren«. H. soll - so der Inhalt der Anklageschrift - der Militärverantwortliche für den Bereich Tübingen gewesen sein, er habe den Aufbau von lokalen Bürgerwehren geplant. Die Leitung einer solchen Bürgerwehr in Reutlingen habe man dem Sportschützen L. übertragen. Neben den Bürgerwehren war der Aufbau von 286 sogenannten Heimatschutzkompanien geplant. Zwei davon waren laut Anklage schon nahezu einsatzfähig - unter anderem die im Bereich Freudenstadt/Tübingen.

Bild des SEK-Einsatzes in Altenburg, der ebenfalls am 22. März 2022 stattfand.
Bild des SEK-Einsatzes in Altenburg, der ebenfalls am 22. März 2022 stattfand. Foto: privat
Bild des SEK-Einsatzes in Altenburg, der ebenfalls am 22. März 2022 stattfand.
Foto: privat

Es war bekannt, dass der Reutlinger L. über sechs waffenrechtliche und eine sprengstoffrechtliche Erlaubnis verfügte, mehrere Waffen besaß. Deshalb rückte auch das SEK zur Durchsuchung an. Doch niemand hatte wohl damit gerechnet, dass er zum äußersten bereit war. L. besaß bei weitem nicht nur die gemeldeten Waffen. Allein die Verlesung des bei ihm gefundenen Arsenals dauert mehrere Minuten. Wäre der Umsturz, den die mutmaßlichen Reichsbürger geplant hatten, realisitisch gewesen? Man weiß es nicht, das Gericht wird sich dieser Frage nun über Monate und Jahre hinweg widmen. Klar ist jedoch, dass die Mitglieder über ein überdurchschnittliches Waffenarsenal verfügten. Es ist von insgesamt 380 Schusswaffen, 350 Hieb- und Stichwaffen sowie 148.000 Munitionsteilen die Rede, auch von gefundenen Gasmasken, Helmen, Armbrüsten, Militärverpflegung, Sturmhauben, Handfesseln.

Im Juni 2021 begann der Aufbau der Gruppe, deren Mitglieder »eine tiefe Ablehnung der demokratischen Grundordnung« verband, so die Anklage. In der Reichsbürger-Szene herrscht die Ansicht vor, das 1871 mit einem Kaiser an der Spitze gegründete historische Deutsche Reich bestehe heute noch fort. Aber auch die Narrative des QAnon-Kults spielen in der Anklage von Stuttgart eine bedeutende Rolle, die feste Überzeugung, dass verschwörerische Eliten die Geschicke der Welt lenken, diese den rituellen Missbrauch von Kindern in unterirdischen Tunneln praktizieren und aus den Kinderkörpern »Verjüngungskuren« gewinnen.

Feindeslisten mit Bürgermeistern und Landräten

Der Sturm des Reichstags und die Festnahme von Abgeordneten wurde in vielen Treffen geplant, so die Anklage. Es soll Schießtrainings gegeben haben, von geplanten »Aufräumarbeiten und Säuberungen« ist die Rede, von Feindeslisten mit Menschen, die man am Tag des Umsturzes exikutieren wollte. Auch Landräte und Bürgermeister seien auf diesen Listen gestanden. Weitere Männer aus der Region Neckar-Alb sind unter den Angeklagten: Oberstabsfeldwebel Andreas M. - zuletzt wohnhaft in Neustetten bei Rottenburg und als Logistiker beim KSK in Calw beschäftigt - soll seine Wohnung als Gefechtsstand zur Verfügung gestellt haben. Ralf S. aus Horb war Inhaber eines eigenen Handwerksbetriebs. Er kundschaftete zusammen mit Steffen W. die Hohenbergkasnerne aus, heißt es in der Anklage. W. soll einen militärischen Ausbildungsplan ausgearbeitet haben, von »Partisanenkampf« und »Stoßtrupp-Kampf« ist die Rede.

Das Medieninteresse am Prozess ist immens: Tages- und Wochenzeitungen aus ganz Deutschland, Rundfunk, Nachrichten-Agenturen, sogar ein Journalist aus Holland und der Deutschland-Korrespondent der New York Times sind an diesem Montag vor Ort. Auch die Sicherheitsvorkehrungen sind immens: Selbst akkreditierte Journalisten müssen Gürtel und Schmuck ablegen, dürfen nur mit Laptop und Block in den Saal. Auch mehrere Verwandte und Freunde der Angeklagten sind im Zuschauerraum. Eine Frau trägt ein Shirt mit der Aufschrift »Everything will be fine« und zeigt dieses plakativ dem Angeklagten Marco van. H.

Anwälte kritisieren Aufteilung des Prozesses

Nachdem die Anklageschrift verlesen ist, kritisieren mehrere der insgesamt 20 Anwälte, dass der Prozess in drei Teile aufgesplittet wurde. In Stuttgart geht es um den sogenannten militärischen Arm, in Frankfurt sind ab dem 21. Mai die mutmaßlichen Rädelsführer angeklagt, in München ab dem 18. Juni die übrigen mutmaßlichen Mitglieder.

Die Anwälte sagen, eine effektive Strafverteidigung sei nicht möglich, weil die Erkenntnisse in einem Prozess nur schwer in die anderen einließen könnten. Die Bundesanwaltschaft sei in allen drei Verfahren stets präsent, den Verteidigern sei dies jedoch schon logistisch nicht möglich, so die Argumentation - das verstoße gegen den »Grundsatz der Waffengleichheit«. Der Vorsitzende Richter Joachim Holzhausen wies den Antrag auf Aussetzung des Verfahrens zurück. Die Forderung nach einer Zusammenlegung der drei Prozesse werde zurückgestellt.

Zwei der Anwälte haben ebenfalls einen Bezug in die Achalmstadt. Der Reutlinger Steffen Hammer verteidigt Wolfram S., der besonders gesicherte Laptops für die Gruppe besorgt haben soll. Hammer ist als Anwalt der rechten Szene bekannt, er war Sänger und Kopf der mittlerweile aufgelösten Rechtsrock-Band »Noie Werte«. Der Angeklagte Marco van H. wird unter anderem von Rechtsanwältin Victoria Dannenmaier verteidigt. Dannenmaier hatte jüngst auch den Reutlinger AfD-Stadtrat Hansjörg Schrade vertreten, der sich vor dem Reutlinger Amtsgericht wegen Volksverhetzung verantworten musste.

Ansonsten ging es bereits zum Prozessauftakt um Details wie die Sitzordnung im Saal und die Frage, wie den Angeklagten in der Haft Informationen wie Audiomitschnitte zur Verfügung gestellt werden könnten. Kommende Woche soll der Prozess fortgesetzt werden. Das Gericht hat Termine bis 2025 angesetzt - aus Sicht von Beobachtern dürfte das nicht reichen. (GEA)

Zahlen und Fakten zu Reichsbürgern

Die Reichsbürger-Bewegung gilt als sicherheitsgefährdend und wird seit Herbst 2016 vom Verfassungsschutz beobachtet. Rund 3.800 Menschen zählte die Landesregierung zuletzt zu der Szene im Südwesten. Bundesweit sind es mehr als 23.000.

Die Stadtverwaltung Reutlingen ordnet etwa 30 Personen im Stadtgebiet der Reichsbürgerszene zu. Das gab Ordnungsamtschef Albert Keppler jüngst im Gespräch mit dem GEA bekannt. Es gebe aber ein Dunkelfeld, das nur schwer einzuschätzen sei. »Wie hoch das ist, können wir nicht sagen. Aber wir gehen davon aus, dass wir keine Hochburg sind.« Eine weitere Zahl aus der Region: Das Reutlinger Polizeipräsidium - zuständig für die Landkreise Reutlingen, Tübingen, Esslingen und Zollernalb - gab das Reichsbürger-Personenpotential für seinen Präsidiumsbereich mit im »niedrigen dreistelligen Bereich« an.

Nach einer neuen Erhebungsmethode des Innenministeriums waren zum Stichtag am 31. Dezember 2023 insgesamt 208 Reichsbürger im Besitz einer waffenrechtlichen Erlaubnis. Das sind deutlich mehr, als noch vor einem Jahr - was an einer neuen Erhebnungsmethode liegt: Nun werden erstmals auch waffenrechtlich relevante Menschen mitgezählt, zu denen nicht offen gerichtsverwertbare Erkenntnisse des Verfassungsschutzes vorliegen. (GEA/dpa)