REUTLINGEN. Prostitution ist in Baden-Württemberg nur in Gemeinden mit mehr als 35.000 Einwohnern erlaubt, erklärt Ramona Döttling als Pressesprecherin des Polizeipräsidiums Reutlingen vorneweg. Es bestehe keine Meldepflicht an die Polizei, »daher sind die polizeilichen Erkenntnisse nicht abschließend«. Da Prostitution aber anmelde- und gewerbesteuerpflichtig ist, kann etwa Torben Engelhardt vom Gewerbeamt der Stadt Reutlingen ihre Auskünfte ergänzen. Aufgrund der ihr vorliegenden Erkenntnisse könne man von etwa 25 bis 30 Prostituierten ausgehen, die jeweils zumindest zeitweise in Bordellen oder bordellartigen Betrieben im Kreis Reutlingen tätig waren oder sind, erklärt Ramona Döttling. »Unseren bisherigen Erfahrungen nach dürfte der ausländische Anteil der Prostituierten etwa 80 Prozent betragen.« Zum größten Teil stammten die Prostituierten aus Osteuropa. Sie seien überwiegend rumänischer, bulgarischer und ungarischer Staatsangehörigkeit. Auch Frauen aus Südamerika gingen in Reutlingen der Prostitution nach.
Torben Engelhardt von der Stadtverwaltung zufolge gibt es in Reutlingen aktuell sechs Bordelle - "oder "Prostitutionsstätten, wie es im Verwaltungsdeutsch heißt". Die Spannweite sei dabei groß: Sie reiche von einem einzelnen Bett, das ein Betreiber vermiete, bis hin zum größten Etablissement mit 15 Arbeitszimmern oder Betten. Mit insgesamt 36 Arbeitszimmern könnten gleichzeitig also 36 Prostituierte in der Stadt arbeiten. Eins der Bordelle sei nach einem kürzlichen Betreiberwechsel noch nicht in Betrieb, das bislang größte - in der Albstraße - hat wie berichtet jüngst geschlossen. Das ist in seiner Statistik nicht mehr enthalten. Zudem sei es erlaubt, dass Prostituierte in ihren Wohnungen arbeiten. Das trenne der Gesetzgeber. Da dies nicht unter "Gewerbe" läuft, sind diese Frauen nicht bei der Stadt verzeichnet, sondern müssen sich beim Landratsamt anmelden. Er geht von fünf bis zehn Fällen pro Woche aus, wo Prostituierte nicht in genehmigten Bordellen tätig seien. Wie die Polizei geht er von einem relativ hohen Dunkelfeld aus, das weder Stadt noch Polizei näher beziffern können.
Erfassung schwierig, da Prostituierte oft durchs gesamte Bundesgebiet reisen
Durch die gesetzliche 35.000-Einwohner-Vorgabe können Angaben des Landratsamts (LRA) zufolge im Landkreis Reutlingen Prostitutionsstätten ausschließlich im Stadtgebiet Reutlingen erlaubt werden. Laut LRA werden in der Stadt drei Bordelle mit insgesamt 18 Zimmern, dazu ein Laufhaus mit insgesamt 16 Zimmern und zwei Terminwohnungen mit drei Zimmern betrieben. »Eine Anzahl, wie viele Personen in Reutlingen der Prostitution nachgehen, kann nicht genannt werden«, teilt Behördensprecherin Katja Walter auf Nachfrage mit. »Dieser Personenkreis hält sich nicht dauernd in Reutlingen auf, sondern reist oft durch das gesamte Bundesgebiet, um in verschiedenen Städten der Prostitution nachzugehen. Das Landratsamt Reutlingen kann nur Aussagen treffen, wie viele Anmeldebescheinigungen jährlich ausgestellt wurden.« Solche Bescheinigungen werden in der Regel für zwei Jahre ausgestellt, die gesundheitliche Beratung müsse jährlich erfolgen. Beides könne im gesamten Bundesgebiet bei den zuständigen Behörden erfolgen. Eine zuverlässige Erfassung ist daher schwierig.
Im vergangenen Jahr wurden dem LRA zufolge 49 Anmeldebescheinigungen ausgestellt. Die Nationalität der meisten Personen war Walter zufolge Rumänisch, gefolgt von Deutsch, Spanisch und Thailändisch sowie weiteren Nationalitäten. 2022 wurden 73 Anmeldebescheinigungen ausgestellt, die Nationalität der meisten Personen war auch damals Rumänisch. An zweiter Stelle kamen Spanierinnen, danach Deutsche und Thailänderinnen sowie weitere Nationalitäten. »Viele in der Prostitution Tätige kommen aus ihren Heimatländern nach Deutschland zum Arbeiten. Es melden sich aber auch einige Personen an, die im Bundesgebiet wohnen«, berichtet Katja Walter. Die Sprachbarriere stelle kein Problem dar, da Übersetzerinnen eingebunden und die Piktogramme von »Pictohealth« benutzt werden können. Das größte Problem ist ihr zufolge, »dass die Prostituierten keinen anderen Ausweg aus den finanziellen Problemen sehen und keine Hilfe in Anspruch nehmen wollen. Bei Anhaltspunkten einer Zwangsprostitution darf keine Anmeldebescheinigung ausgestellt werden, so dass auch hierüber eine Aufklärung erfolgt«.
Probleme stellen seit Corona verstärkt Ferienwohnungen dar
Torben Engelhardt zufolge weichen seit der Corona-Pandemie viele Prostituierte aus dem Ausland auf Air-BnB- und Ferienwohnungen aus. »Da sich die günstiger anmieten lassen.« Die Frauen ließen sich über eine Handynummer kontaktieren und geben erst darauf den Ort bekannt. Das sei eine rechtliche Grauzone - »und für uns ein großes Problem«. Denn die Frauen seien oft nur eine Woche lang da, und zögen dann weiter in eine andere Stadt. Es gebe deshalb jeweils nur kurze Zeitfenster, in denen die Behörden reagieren können - etwa, um sie zu kontrollieren.
Das am 1. Juli 2017 in Kraft getretene Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) soll seinem Namen entsprechend Personen, die in der Prostitution tätig sind, schützen. Zum Einen, indem es für Prostituierte über 21 Jahren »verträgliche Arbeitsbedingungen« schafft. Und zum Andern, indem es »Kriminalität wie Menschenhandel, Gewalt und Ausbeutung sowie Zuhälterei« bekämpft. Kernelemente sind etwa die Anmeldepflicht und die verpflichtende gesundheitliche Beratung - alle zwei Jahre. Dafür sind das Landratsamt und das dort angesiedelte Gesundheitsamt zuständig. Torben Engelhardt zufolge ist es jedoch schwierig für die Kollegin dort, in einem ein- bis zweistündigen Gespräch zu versuchen, ein ausreichendes Vertrauensverhältnis aufzubauen, um herauszuhören, ob die Frauen tatsächlich so freiwillig in der Prostitution arbeiten, wie sie in der Regel angeben.
Wirkt das Prostituiertenschutzgesetz wie erwünscht?
Viele Menschen, die sich mit Prostitution befassen - wie die Initiatorinnen der aktuellen VHS-Foto-Ausstellung in Reutlingen -, sind der Meinung, das Gesetz zum Schutz der Prostituierten sei gescheitert. Was sagen die Reutlinger Behörden dazu? »Zur Feststellung und Bewertung der Auswirkungen des Prostituiertenschutzgesetzes ist unter anderem ein kriminologisches Forschungsinstitut mit einer entsprechenden Evaluation beauftragt«, teilt Ramona Döttling von der Polizei mit. »Diese soll bis zum 1. Juli 2025 dem Deutschen Bundestag vorliegen. Anschließend kann eine Bewertung im Hinblick auf die Erreichung der angestrebten Ziele erfolgen und gegebenenfalls weiterer Regelungsbedarf ausgemacht werden.« Ein Zwischenbericht, den das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Jahr 2020 veröffentlichte, beinhalte bundesweite Zahlen der Jahre 2017 und 2018.
Im Landratsamt Reutlingen ist Ingrid Wiedmann für die Bereiche Gewerberecht sowie Kriminalprävention zuständig, erklärt LRA-Pressesprecherin Katja Walter. Durch die gesundheitliche Beratung sowie Informations- und Beratungsgespräche seien »die Personen, die in der Prostitution tätig sind, aufgeklärt über die wichtigsten Pflichten und Rechte und Schutzvorkehrungen aus dem Bereich Gesundheit und Hygiene«. Dies gab es vor Einführung des Prostituiertenschutzgesetzes nicht, betont sie. Das gebe »diesem Personenkreis einen gewissen Schutz und die Sicherheit, an wen sie sich bei Problemen wenden können«. Das umstrittene Gesetz wird ihr zufolge derzeit durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und evaluiert.
Wie versuchen die Behörden, den Frauen zu helfen?
Aufgabe der Polizei ist nach jenem Gesetz in erster Linie die Verfolgung und Bekämpfung von Straftaten, also insbesondere der illegalen Prostitution. Dazu würden die Betriebe im Rahmen von unangemeldeten Kontrollen in regelmäßigen Abständen überprüft - auch Ferienwohnungen oder Hotelzimmer, teilt Döttling mit. Zumindest wenn entsprechende Verdachtsmomente vorliegen. Laut Engelhardt sind das etwa Beobachtungen aufmerksamer Nachbarn. »Bei Verdachtsmomenten im Hinblick auf eine mögliche Zwangsprostitution versuchen die Kolleginnen und Kollegen zudem, Betroffene aufzuklären, Beratungsangebote zu unterbreiten und Kontakt zu Beratungsstellen zu vermitteln«, erklärt Ramona Döttling.
Nach § 3 des ProstSchG kann dem LRA zufolge eine Anmeldebescheinigung nur dann ausgestellt werden, wenn es zuvor eine gesundheitliche Beratung nach § 10 sowie das Informations- und Beratungsgespräch nach § 7 gab. Bei Letzterem erhalten die in der Prostitution Tätigen Informationen zu ihren Pflichten und Rechten wie zum Beispiel Rechtslage, relevante Vorschriften, Absicherung im Krankheitsfall und zur sozialen Absicherung, aber auch über ihre umsatz- und ertragssteuerrechtlichen Pflichten und diesbezügliche Beratungsangebote im Landkreis. Dazu werde über gesundheitliche und soziale Beratungsangebote informiert. Die Frauen würden auch darüber aufgeklärt, wo sie Hilfe in Notsituationen erhalten.
Armut und Schulden sind die häufigsten Gründe
In der gesundheitlichen Beratung liegen die Schwerpunkte LRA-Sprecherin Walter zufolge in der Verhütung von Geschlechtskrankheiten, Kontrazeption, Schwangerschaft sowie Alkohol- und Drogengebrauch. »Die Beratung ist vertraulich. Die zu beratende Person hat die Möglichkeit, Zwangs- oder Notlagen zu offenbaren und angebotene Kontakte für entsprechende Hilfe in Anspruch zu nehmen.« Hilfsangebote umfassen unter anderem anonyme kostenlose Testmöglichkeiten auf sexuell übertragbare Krankheiten bei der Beratungsstelle für sexuelle Gesundheit beim Gesundheitsamt, Ausstiegsberatungen bei unterschiedlichen Fachberatungsstellen, Schuldnerberatung, Migrationsberatung der Diakonie und Caritas. »Ob die dazu beratenen Personen bei den Beratungsstellen auch ankommen, ist nicht bekannt«, sagt Katja Walter.
Die häufigsten Probleme jener Frauen, die sich in den Gesprächen offenbarten beträfen finanzielle Zwangslagen - Schulden im Heimatland, Schulden beim Zuhälter, Krankenhauskosten durch fehlende Versicherung, Erpressung mit Nacktfotos und Videos, Schulden für Bürgschaften für Freunde und Ehemänner. Dazu kämen gesundheitliche Probleme bei fehlender Krankenversicherung: Infektionen, schlechte Zähne, genitale Schmerzen durch hochfrequenten Geschlechtsverkehr, Feigwarzen, Knoten in der Brust. Aber auch psychische Probleme. Dazu gehören etwa Drogenmissbrauch und -abhängigkeit, Depressionen, Panikattacken, Burnout, Schlafstörungen und Essstörungen. All dies legt dem LRA zufolge häufig den Verdacht auf Zwangsprostitution nahe. Erpressungsversuche etwa gehören zur gängigen Masche sogenannter Loverboys. Hohe Tagesmieten in den Prostitutionsstätten haben zudem Schulden zur Folge, wenn nicht genug verdient wird.
Zahlen zur Zuhälterei
Bei vielen Verstößen im Bereich der Prostitution handelt es sich um Ordnungswidrigkeiten, teilt Ramona Döttling vom Polizeipräsidium mit. Die werden im Gegensatz zu Straftaten nicht statistisch erfasst und finden sich deshalb nicht in der polizeilichen Auswertung. Ihre Kollegen haben jedoch auf die GEA-Anfrage hin Straftaten im Bereich der Prostitution im Landkreis Reutlingen recherchiert. Wichtig sei dabei: Die Zahlen bilden nicht das gesamte Kriminalitätsgeschehen in diesem Bereich ab. Sie geben lediglich Aufschluss über polizeilich bekannt gewordene Straftaten. Ein sogenanntes Dunkelfeld komme hinzu. Wie hoch eine mögliche Dunkelziffer ist, kann nach Aussagen aller von uns befragten Stellen nicht benannt werden.
Die Recherche der Polizei ergab: Straftatbestände im Bereich "Ausübung der verbotenen Prostitution, Zuhälterei und Zwangsprostitution" entwickelten sich von zwei Fällen im Jahr 2019 über einen Fall im Jahr 2020 - das war das erste Corona-Jahr - zu erneut je zwei in den Jahren 2021 und 2022. "In den Jahren 2019 bis 2022 lag die Zahl der erfassten Delikte in Bezug auf die aufgeführten Straftaten im unteren, einstelligen Bereich", erklärt die Polizeisprecherin dazu. "Vier der insgesamt sieben aufgeführten Fälle fallen in den Bereich der Zwangsprostitution. Zudem wurden im Betrachtungszeitraum zwei Fälle der Ausübung der verbotenen Prostitution und ein Fall der Zuhälterei erfasst." Die Zahlen für 2023 seien noch nicht pressefrei. "Die Tendenz ist jedoch rückläufig."
Hier gibt es für Zwangsprostituierte Hilfe
Ramona Döttling von der Reutlinger Polizei verweist auf Angebote für die Opfer von sexualisierter Gewalt auf regionaler Ebene. Fachberatungsstellen für Frauen und Männer finden sich auf der Webseite des Sozialministeriums. Das bundesweite Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« unter 116 016 könne rund um die Uhr kostenfrei und mehrsprachig in Anspruch genommen werden. (GEA)