REUTLINGEN. »Wir haben einen Fachkräftemangel. Vor allem in der Pflege fehlen Kräfte«, sagt Anja Fujan von der Personalabteilung der Kreiskliniken Reutlingen GmbH. Geflüchtete aus der Ukraine sind oft recht gut ausgebildet, gerade in Pflegeberufen. Wieso es dennoch länger als gewünscht dauert, bis aus Bewerberinnen oder Bewerbern schließlich dringend benötigte Mitarbeiter werden, zeigt sich bei einem Berufsinfotag im Klinikum am Steinenberg.
Die Fakten sind vielversprechend. Von den etwa 2.500 Menschen, die an den verschiedenen Standorten der Kreiskliniken arbeiten, sind laut Anja Fujan rund 600 in der Pflege beschäftigt, »und wir bräuchten ungefähr 100 mehr«. Der Bedarf ist also da, dazu ein sicherer Arbeitsplatz sowie eine berechenbare Bezahlung nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD). Auf der anderen Seite haben Geflüchtete aus der Ukraine im Durchschnitt ein sehr hohes Bildungsniveau – sowohl im Vergleich zu anderen Geflüchteten als auch im Vergleich zur Gesamtbevölkerung in Deutschland. Fast drei Viertel von ihnen gelten als »hochqualifiziert«, besitzen also einen Hochschul- oder Fachhochschul-Abschluss, auch in Sachen Pflege. In Kooperation mit dem Landratsamt bemühen sich die Kreiskliniken darum, dass Bedarf und Bewerber zueinanderfinden.
»Der gesamte Prozess dauert anderthalb Jahre«
Als Koordinator für Arbeitsmarktintegration gehört im Landratsamt Sven Jäger zu denen, die Flüchtlingen dabei helfen. »Ich erstelle jedes Jahr etwa 300 Lebensläufe oder Bewerbungen«, beschreibt Jäger sein Engagement, »da kann man dann schon filtern, und sehen, welche Qualifikationen jemand hat«. Die vor dem russischen Angriffskrieg Geflüchteten sind mehrheitlich Frauen mit ihren Kindern. »Sie sind arbeitsbereit, haben oft eine Ausbildung im Pflegebereich, wissen aber um die Bedeutung umfassender Deutschkenntnisse«, erklärt der Koordinator. Für den Berufsinfotag im Kreisklinikum hat er 13 Frauen und zwei Männer interessieren können. Sie kommen überwiegend aus der Ukraine, aber auch aus Serbien, Kamerun und Afghanistan. In einem ersten Gespräch geht es um Grundsätzliches.
»Wir prüfen, wo die Bewerber organisatorisch stehen«, beschreibt Personalfachfrau Anja Fujan das Verfahren. Ab jetzt wird es aufwendig. An erster Stelle stehen die Deutschkenntnisse. Erwartet wird das Niveau B2. Es bedeutet auch komplexe deutsche Texte verstehen und ein normales Gespräch auf Deutsch führen zu können. Dazu müssen Fachbegriffe verständlich sein. Schon mal eine hohe Hürde. Die entsprechenden Sprachkurse brauchen Zeit. Doch dann wird's richtig schwierig.
Weil die heimische Ausbildung kaum direkt in Deutschland anerkannt wird, gibt's vom Regierungspräsidium Tübingen als der zuständigen Behörde einen sogenannten »Defizitbescheid«. Laut Fujan »steht in dem drin, was die Menschen zur Anerkennung ihrer Berufsausbildung tun müssen«. Die Erteilung erfolgt nach der Prüfung von eingereichten Unterlagen und einem Vergleich mit deutschen Ausbildungsinhalten. Ziel ist die Gleichwertigkeit der ausländischen Ausbildung mit deutschen Standards. Dafür gibt es natürlich gute Grunde, gerade im medizinischen Bereich, jedoch hat sich dadurch zunächst mal die schnelle Anstellung von Migranten erledigt.
Informationsveranstaltung zur Ausbildung in Pflegeberufen
Das Landratsamt Reutlingen hat gemeinsam mit seinen Partnern im Bündnis »Arbeit und Beschäftigung von Asylbewerbern und Flüchtlingen« ein Job- und Integrationsprogramm entwickelt, dass Arbeitsmarktintegration und soziale Teilhabe in gleichem Maße in den Blick nimmt und auf die bestehenden Strukturen zurückgreift. Migranten, die sich für eine Ausbildung in der Pflege interessieren, können sich am Mittwoch, 6. März, ab 13 Uhr in der Akademie der Kreiskliniken (Daimlerstraße 23, 72793 Pfullingen) über Voraussetzungen, Inhalte und Dauer der Ausbildung zur Pflegefachkraft oder zur Gesundheits- und Krankenpflegehilfe informieren. Im Rahmen der Kooperation zwischen dem Landkreis Reutlingen – Amt für Migration und Integration – und den Kreiskliniken Reutlingen sollen Migranten für die Ausbildung gewonnen werden. Ein mittlerer Bildungsabschluss und gute Deutschkenntnisse (mind. B1) sind aber Voraussetzung. Bei Interesse können sich Interessierte an Sven Jäger wenden. (pr)
0172 4386462
Für internationale Pflegekräfte aus dem außereuropäischen Ausland bietet die Akademie der Kreiskliniken einen »Vorbereitungskurs zur Kenntnisprüfung« an. Ziel ist wiederum die Anerkennung der pflegerischen Ausbildung. Voraussetzungen sind beispielsweise der übersetzte Nachweis über den im Herkunftsland qualifizierten pflegerischen Berufsabschluss. Klar, dass Menschen auf der Flucht aus dem ukrainischen Kriegsgebiet oder über das Mittelmeer solche Dokumente eher selten direkt dabei haben. Doch selbst wenn, dauert alles. »Der gesamte Prozess, bis die Zeugnisse übersetzt sind, das Sprachniveau erreicht ist, die Zeugnisse bewertet wurden, Defizitbescheide erstellt werden, der Vorbereitungskurs zur Kenntnisprüfung gemacht sowie die Prüfung absolviert wurde erfordert etwa anderthalb Jahre«, beschreiben Fujan und Jäger wie aus einem Mund die Konsequenzen deutscher Bürokratie. Der Papierstau vor dem Einstieg in den Pflegeberuf ist gewaltig.
»Die bürokratischen Hürden sind viel zu hoch«
»Die bürokratischen Hürden sind viel zu hoch«, meint Sven Jäger vom Landratsamt. Personalerin Fujan verbreitet Optimismus, wenn sie von einer intensiven Begleitung der Bewerber sowie von 70 im Klinikum arbeitenden Nationalitäten spricht. Wer nach dem Berufsinfotag grundsätzlich in einem Pflegeberuf landen könnte, werde sich in den kommenden vier Wochen zeigen. Eine Kandidatin, die darauf hofft, ist die Ukrainerin Nataliia Pohorilova.
Die junge Frau aus Charkiv im Osten der Ukraine – mithin eines der ersten Angriffsziele der Russen – hat ein Studium als Sängerin und Krankenschwester plus eine Ausbildung als Kosmetikerin hinter sich. Sie freut sich auf ein Praktikum am Steinenberg. Die Mutter eines kleinen Sohnes würde gerne hier arbeiten. Zu Hause gebe es genügend Pflegepersonal, erzählt sie. Aufgefallen ist ihr in Reutlingen »die sehr gute Geräteausstattung«. (GEA)