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Orschel-Hagen: Herzstück darf nicht ausbluten

REUTLINGEN. Der Schritt ist ihm schwergefallen. Aber er war unumgänglich: Tayfun Sabir hat seinen Pachtvertrag gekündigt und sich nach 27 Jahren aus der Gaststätte Ring in Orschel-Hagen verabschiedet. Die Umsätze gingen in den vergangenen 13 Jahren kontinuierlich zurück, kein gastronomisches Konzept hat mehr gegriffen.

Der Dresdner Platz war früher laut GWG das »pulsierende Herz« der Stadt. Noch droht kein Herzstillstand. Es gibt aber Alarmzeich
Foto: Gerlinde Trinkhaus
Foto: Gerlinde Trinkhaus
»Ich habe seit dem Jahr 2000 rund 95000 Euro aus eigener Tasche in die Kneipe gesteckt. Jetzt ist Schluss«, sagt der 49-Jährige, der 1972 aus der Türkei nach Deutschland gekommen ist und zunächst als Einzelhandelsvertreter gearbeitet hat, bevor er hinter die Theke des »Rings« wechselte.

»Ich habe 95000 Euro aus eigener Tasche in den Ring gesteckt«
Der Ring: seit den Anfängen der Gartenstadt in den 1960er-Jahren eine Kneipe mit wechselvoller, nicht immer handzahmer Geschichte. Als in den 70er-Jahren im Jugendhaus Schlägereien an der Tagesordnung waren und Polizisten in Mannschaftswagen und mit Festbeleuchtung von der Nürnberger Straße auf den Dresdner Platz einbogen, standen der Ring und seine Klientel oft genug im Zentrum der Aufgeregtheiten. Die Wahrscheinlichkeit, dort mehr als ein Bier eingeschenkt zu bekommen, war hoch.

Mit diesem Ruf hat Tayfun Sabir von Anfang an zu kämpfen gehabt. Und diesen Ruf ist der Ring bei manchem Orschel-Hagener bis heute nicht losgeworden – obwohl die harten Zeiten längst vorbei sind.

Die Gaststätte wurde zum Treffpunkt, zu einer Kneipe, in der Senioren genauso Stammgäste waren wie junge Erwachsene. Eine gehobene Adresse, womöglich ein gepflegtes Speiselokal, war der Ring indes nie und hat er nie sein wollen.

Dann kam die Euroumstellung und vor allem die Rentner machten sich rar. »Sie hatten plötzlich weniger Geld in der Tasche«, sagt Sabir, dem auch durch die Einführung des Rauchverbotes im August 2007 Kundschaft abhandenkam.

Dass er irgendwann den Nichtraucherbereich ins untere Stockwerk und den Raucherraum nach oben verlegt hat, war kaum mehr als Kosmetik. Und von den paar Nachtschwärmern, die am Samstag nach Mitternacht auf einen Absacker im Ring auftauchten, konnte Sabir auch nicht leben.

Jemand, den nach eigenen Angaben pro Monat Fixkosten – Pacht inklusive – von 3 500 Euro plagen und der kaum Einnahmen hat, dem wird die Luft zum Atmen eng – von dringenden Renovierungsmaßnahmen ganz abgesehen. Denn der Ring ist in die Jahre gekommen. Und das sieht man ihm an. Boden und Wände sind alt und fleckig, das Mobiliar zum Teil ramponiert. Auch die Küche verträgt Investitionen, wenn ein neuer Pächter mehr auftischen will als Wurstsalat und Pommes. Tatsächlich wird für Tayfun Sabir ein Nachfolger gesucht.

»Es gibt Interessenten«, sagt Hans-Jürgen Esslinger von Dinkelacker-Schwaben Bräu in Stuttgart. Die Brauerei hat den Ring von der GWG-Wohnungsgesellschaft Reutlingen gepachtet, die seit Anfang an Eigentümerin der Kneipe ist. Es bestehe großes Interesse daran, dass es mit dem Ring weitergeht. »So schnell wie möglich.«

Dass renoviert werden muss, weiß auch die Brauerei. Es komme allerdings darauf an, welches Konzept der neue Pächter verfolge. Brauerei, GWG und Betreiber müssen sich nach Ansicht von Hans-Jürgen Esslinger zusammensetzen und Sanierungsmaßnahmen ventilieren. Mit ein paar Pinselstrichen und bunten Bierdeckeln dürfte es allerdings nicht getan sein.

Auch die GWG signalisiert Interesse an einer Neuverpachtung des Rings – und dies nicht allein im Hinblick auf diese Immobilie. »Der Dresdner Platz mit seinem mannigfaltigen Dienstleistungs- und Einzelhandelsangebot war lange Zeit das pulsierende Herz der Gartenstadt Orschel-Hagen«, sagt der scheidende GWG-Chef Karl-Heinz Walter.

Fester Bestandteil des gastronomischen Angebots sei seit jeher die Ringgaststätte gewesen. Dass der jetzige Betreiber nach 27 Jahren aufgegeben habe, komme allerdings überraschend. »Gelingt es der Brauerei nicht, einen Nachfolger zu finden, klafft am Dresdner Platz eine weitere Belegungslücke. Damit wird das Eis für die Handels- und Gewerbetreibenden an diesem Standort mangels Kundenfrequenz immer dünner«, sagt Karl-Heinz Walter. Vorrangiges Ziel müsse deshalb sein, mehr Bewohner und damit mehr Kunden für die Nahversorger nach Orschel-Hagen zu bringen. »Das Potenzial dafür ist vorhanden. Wird dieses nicht genutzt, wird es am Dresdner Platz bald sehr duster aussehen.«

»Gelingt es nicht, einen Nachfolger zu finden, klafft eine weitere Lücke«
Die Alarmzeichen dafür, dass das Herzstück womöglich ausblutet, sind schon heute unübersehbar, weil neben dem Ring auch das Café Nazar in der früheren Bäckerei Bauder, der Schlecker-Markt, der Getränkemarkt und ein Kosmetikstudio geschlossen haben. Diese Leerstände stimmen die Interessengemeinschaft Einkaufen und Leben in Orschel-Hagen (Igeloh) bedenklich.

»Es ist die Summe«, sagt Apotheker und Igeloh-Vorsitzender Hannes Höltzel, »auch wenn die Grundversorgung nach wie vor gegeben ist.« Dass die Schließung des Drogeriemarktes im Juni 2012 eine Lücke ins Sortiment gerissen hat, bestätigt Hannes Höltzel. Eine Erweiterung des Frischemarktes ist deshalb angedacht, Gespräche laufen.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Parksituation die Attraktivität des Dresdner Platzes nicht unbedingt befeuert. Die Kunden wollen so nahe wie möglich an den Geschäften parken, um ihre Einkäufe nicht weit schleppen zu müssen. Das ist in Orschel-Hagen nur bedingt möglich.

Anders formuliert: Das Konzept, das aus den Anfängen der grünen Gartenstadt datiert, greife heute womöglich nicht mehr, sagt Hannes Höltzel, der sich eine grundlegende Neuausrichtung vorstellen kann.

Im Übrigen tue aus seiner Sicht eine Süderweiterung dem Stadtteil gut: Je mehr Menschen in Orschel-Hagen wohnen – früher waren es fast 10 000, heute sind es etwa 6 500 – desto mehr potenzielle Kunden haben die Geschäftsleute auf dem Dresdner Platz.

Trotz aller Schwierigkeiten gibt es klare Bekenntnisse zum Standort. So ist die Volksbank Reutlingen von dessen Attraktivität überzeugt: »Wir glauben, dass Orschel-Hagen den Dresdner Platz braucht und das auch in Zukunft. Ob im Supermarkt, beim Bäcker, Apotheker oder in der Bank, hier verrichten die Orschel-Hagener nicht nur ihre täglichen Erledigungen, sondern der Platz ist gleichzeitig auch ein wichtiger Treffpunkt für die Bürger«, sagt Volksbank-Vorstand Siegfried Arnold. Zurzeit werde die Filiale modernisiert. »Wir haben uns dazu entschlossen, ordentlich Geld in die Hand zu nehmen und in den Standort zu investieren. Das würden wir nicht machen, wenn wir Zweifel an seiner Zukunftsfähigkeit hätten.«

Eine Umbaumaßnahme war die Verlegung des Bankautomaten aus dem Eingangsbereich nach draußen. Dies sei notwendig geworden, weil Jugendliche immer wieder den Vorraum in Beschlag genommen und sich Kunden darüber beschwert hätten, sagt Andrea Anstädt, Marketing-Chefin der Volksbank. Ob diese Lösung der Weisheit letzter Schluss ist, bleibt abzuwarten. Es mehren sich Stimmen vor allem von Rentnern, denen das Abheben von Geld ungeschützt unter freiem Himmel Sorgen bereitet.

Hier also Investitionen, dort die Warnung vor dauerhaften Leerständen auf einem Platz, der seit seinem Bestehen immer wieder in die Schlagzeilen gerutscht ist.

In einem Brief engagierter Orschel-Hagener an die »Bürger der Gartenstadt« heißt es: »In enger Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung und der GWG« müssten Mittel und Wege gefunden werden, »Orschel-Hagen nicht zu einer trägen Trabantenstadt werden zu lassen, sondern zu einem lebenssprühenden, vorbildlichen Gemeinwesen«. Das Geschäftszentrum spiele darin eine wichtige Bedeutung.

»Die Steuergelder vieler Reutlinger Bürger, mit denen das moderne Zentrum errichtet wurde, wären sinnlos vertan, wenn eines Tages der Pleitegeier sich dort einnisten würde. (…) Sicher ist jedoch, dass sich die Umsätze der Orschel-Hagener Geschäfte noch wesentlich steigern müssen, wenn das umfangreiche Angebot zur Versorgung der Bevölkerung auf dem jetzigen hohen Stand gehalten werden soll. Vielleicht denken Sie bei Ihren zukünftigen Einkäufen auch einmal daran.« Der Brief datiert vom Mai 1967. (GEA)