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OB Keck: Situation in Reutlingen hat sich entspannt, aber...

Es falle ihm schwer, optimistisch zu bleiben, sagt OB Thomas Keck angesichts der Unkalkulierbarkeit der weiteren Entwicklung de
Es falle ihm schwer, optimistisch zu bleiben, sagt OB Thomas Keck angesichts der Unkalkulierbarkeit der weiteren Entwicklung der Kriegs- und Flüchtlingslage. FOTO: PIETH
Es falle ihm schwer, optimistisch zu bleiben, sagt OB Thomas Keck angesichts der Unkalkulierbarkeit der weiteren Entwicklung der Kriegs- und Flüchtlingslage. FOTO: PIETH

REUTLINGEN. Die Umsetzung aller Maßnahmen, die der Ukraine-Krieg erforderlich macht, dürfte nach Corona die größte gesamtstädtische Herausforderung werden, hat Oberbürgermeister Thomas Keck kurz nach Kriegsausbruch gemutmaßt. Hat Reutlingen diese Herausforderung bewältigt? Der GEA hat nachgefragt. »Es wäre schön, wenn man sagen könnte, wir sind durch – sind wir aber nicht«, so Oberbürgermeister Keck ein Jahr danach. Immerhin gebe es »ein gewisses Maß« an Entspannung, was die Unterbringung der Flüchtlinge angeht.

Was unter anderem damit zu tun hat, dass wegen des milden Winters die aktuelle Zuzugsrate ukrainischer Kriegsflüchtlinge relativ gering ist, sagt Keck. Und fast im gleichen Atemzug: »Im Moment.« Denn wie sich die zunehmende Vernichtung der Infrastruktur in der Ukraine auswirke, wisse man nicht. Auch nicht, wie der weitere Kriegsverlauf aussieht und ob er noch mehr Menschen in die Flucht treibt. Deshalb könne aus der entspannten Lage schnell auch wieder eine angespannte Lage werden.

»So schaffen wir es,etwas Druck aus dem Kessel zu lassen«

Was Stand jetzt nicht der Fall ist. Deshalb soll die in der Mittelstädter Festhalle eingerichtete Notunterkunft wieder aufgelöst werden, was voraussichtlich Ende März, Anfang April passieren könnte. Auch die Rommelsbacher Halle, die vorbereitet, aber noch nicht bezogen ist, kann wieder freigegeben werden – immer unter dem Vorbehalt, dass die Lage unverändert bleibt, sagt Keck. »Wenn der Winter doch noch kommt oder Putin was weiß ich nicht macht, kann das alles über Nacht kippen.«

Der Zuzug aus der Ukraine macht allerdings nur einen Teil der Flüchtlingsproblematik in Reutlingen aus, stellt Keck klar. Mit Blick auf die Gesamtzahl Geflüchteter in der Stadt ist es mit der Entspannung nicht mehr so weit her. »Wir sind voll«, sagt er klipp und klar. In Reutlingen leben insgesamt 2 735 Flüchtlinge, davon 909 ukrainische Staatsangehörige – 2 166 mit Aufenthaltserlaubnis (Ukrainer eingerechnet), 257 im laufenden Asylverfahren und 312 Geduldete. 1 300 Personen sind städtisch untergebracht.

Eine beachtliche Zahl Geflüchteter, der die Stadtverwaltung mit beachtlichen Anstrengungen begegnet ist. »Wir sind in einer relativ komfortablen Situation«, sagt Reutlingens OB zum Ergebnis. Sechs Container-Standorte sind beschlossen, müssen aber noch gebaut werden. Doch es gibt schnellere Lösungen. Mit dem Umbau des Behnisch-Baus in der Ringelbachstraße entstehen 60 bis 70 Plätze, im alten Pflegeheim Voller Brunnen 130 bis 150 Plätze. Beide können voraussichtlich ab April belegt werden. Dazu kommen Anmietungen: Im alten GWG-Studierendenwohnheim Theodor-Litt-Haus wird es ab April 112 Plätze für Flüchtlinge geben, im nicht mehr benötigten Wohnheim der Bruderhaus-Diakonie weitere 72 Plätze. »So schaffen wir es, etwas Druck aus dem Kessel zu lassen«, sagt Keck zur erfolgreichen Beschaffung von Unterkünften.

»In diesem Bereichoptimistisch zu bleiben,fällt mir schwer«

Und zur Kehrseite: »Das hat natürlich seinen Preis. Auf die Stadt kommen hohe Kosten zu, die wir aber nur teilweise erstattet bekommen.« Der Bund, vor allem aber das Land lasse die Kommunen im Stich, kritisiert er. Das »80-Millionen-Euro-Progrämmchen« zur Subventionierung der Baukosten von Flüchtlingsunterkünften für ganz Baden-Württemberg sei völlig inadäquat, und die Aufnahmekriterien so »brutal«, dass es kaum eine Kommune schaffe, reinzukommen – und die finanzschwache Stadt Reutlingen schon gar nicht. Denn den hohen Eigenanteil könne sie nicht stemmen. Das bittere Fazit: »Uns geht’s besonders dreckig, und deshalb kriegen wir noch eins mit der Latte.« Vom Ministerpräsidenten wünsche er sich mehr Unterstützung. »Aber er verweist auf den Bund und das war’s dann.«

Der jüngste Flüchtlingsgipfel mache zwar etwas Mut, immerhin sollen 2,7 Milliarden Euro für Unterbringung und Versorgung fließen. Aber, so die bisherige Erfahrung von Reutlingens Oberbürgermeister: »Die Verteilung ist sehr unterschiedlich. Für die Städte bleibt am wenigsten übrig.« Also ausgerechnet dort, wo der Druck am größten ist.

Auch, wenn Reutlingen bei der Unterbringung ganz gut auf Kurs ist: Reichen, stellt OB Keck klar, wird das nicht. »Die Prognosen geben eine eindeutige Richtung vor: Die Zahlen gehen nach oben.« Denn abseits aller Kriege und Krisen, die Menschen in die Flucht treiben, sei mit immer mehr Klimaflüchtlingen zu rechnen. »Das ist Realität und das wird gewaltig sein.« Deshalb komme die Stadt nicht umhin, mit der GWG neue Unterkünfte für Flüchtlinge auf Dauer zu bauen. Neben der Unterbringung stelle sich das Problem der Betreuung. »So viele Sozialarbeiter haben wir gar nicht. Wir sind mehr denn je auf die Netzwerke angewiesen.«

Sonderstab einen Tag nach Kriegsausbruch, viel Verwaltungs-»Power«, um die Unterbringung zu koordinieren, Anlaufstellen zu schaffen, Hilfe zu organisieren – was die Ukraine-Flüchtlinge angeht, zieht Keck Bilanz, hat Reutlingen einiges geschafft.

Bei der Unterbringung ist die Stadt auf einem guten, aber wegen der unkalkulierbaren Lage im Kriegsland keineswegs sicheren Weg. Die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung sei nach wie vor da. Dass sie etwas nachlasse und von anderen Ereignissen wie der Erdbebenkatastrophe in der Türkei überlagert werde, sei ganz normal.

Und wie schätzt Thomas Keck die weitere Entwicklung ein? Er sei, sagt er, geborener Optimist. »Aber in diesem Bereich optimistisch zu bleiben, fällt mir schwer.« (GEA)

 

OB KECK ZUM GRÜNEN-MEMORANDUM UND BORIS PALMER

»Forderungen greifen zu kurz«

Vom Memorandum der Gruppe »Vert Realos«, das Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer mit unterzeichnet hat, hält Thomas Keck wenig. Die Realos fordern wegen der steigenden Flüchtlingszahlen eine andere Migrationspolitik, unter anderem auch konsequentere Rückführungen. »Der Grundgedanke ist richtig, in der Praxis halte ich das aber für sehr schwierig«, sagt Reutlingens Oberbürgermeister. Forderungen wie die nach beschleunigter Rückführung würden zu kurz greifen, weil viele Länder die Geflüchteten gar nicht aufnehmen. Fazit von Keck: »Einfachste Rezepte zur Lösung schwierigster Problemlagen taugen nicht.« (keg)