REUTLINGEN. Vor einem Jahr waren die Eigenheimrichtlinien schon einmal Thema in Bezirksgemeinden und Gemeinderat, zur Beschlussfassung kam es nicht. Jetzt geht es in eine neue Runde – mit überarbeiteten Kriterien. Der Ortsbezug soll nur noch mit maximal 55 Punkten bewertet werden, soziale Aspekte wie etwa die Kinderzahl mit bis zu 70 Punkten. Vergaberichtlinien stehen unter Beobachtung der Gerichte, Ortsansässige sollen nicht deutlich bevorzugt werden. »Die Verwaltung ist dazu da, rechtskonforme Vorschläge zu machen«, begründet Fabian Schäufele vom Amt für Wirtschaft und Immobilien die Änderung.
Rechtsgültig sind die Vergaberichtlinien für städtische Wohnbaugrundstücke von 2017. Schon damals gab es ein Punktesystem, das aber nicht gedeckelt war. Zur Neufassung sah sich die Verwaltung im vergangenen Jahr unter anderem veranlasst, weil der Europäische Gerichtshof das in den Kommunen praktizierte »Einheimischenmodell« – die klare Bevorzugung Ortsansässiger bei der Grundstücksvergabe – als Vertragsverletzung eingestuft hatte.
Ortsverbundenheit gibt Punkte
Daraufhin wurden bundesweit neue Leitlinien erlassen, in denen unter anderem festgeschrieben ist, dass die Ortsansässigkeit bei der Vergabe nicht Zugangsvoraussetzung ist und die »Ortsverbundenheit« bei der Punktevergabe zu maximal 50 Prozent berücksichtigt werden kann. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs spiegelte sich im März 2020 in einer Entscheidung des Sigmaringer Verwaltungsgerichts wider, in dem die zu starke Gewichtung der Ortsansässigkeit bemängelt wurde.
Die Neufassung der Vergaberichtlinien, die im Herbst 2020 zur Diskussion stand, hatte die Verwaltung dazu veranlasst, das Punktesystem den neuen Vorgaben anzupassen. Es wurde gedeckelt, für ortsbezogene und soziale Kriterien gab es jeweils maximal 70 Punkte. Bei Patt sollte langjähriges ehrenamtliches oder bürgerschaftliches Engagement den Ausschlag geben. Außerdem wurde die Festlegung auf Einfamilienhäuser gelockert, auch für Doppel- und Reihenhäuser sollten städtische Baugrundstücke angeboten werden.
489 Bewerber für 25 Grundstücke
Seit 2017 gab es drei Ausschreibungsverfahren für insgesamt 25 städtische Grundstücke mit 489 Bewerbern: Wegen ihres günstigen Preises – er orientiert sich am Bodenrichtwert – sind sie heiß begehrt, auf dem freien Markt zahlen die Häuslebauer in spe ein Vielfaches. Ziel der Vergaberichtlinien war und ist es, junge Reutlinger Familien bei der Eigentumsbildung zu unterstützen. »Es geht nur darum, wie wir die Kriterien gestalten und wie weit wir uns in einen ungeklärten Rechtsbereich wagen«, sagt Fabian Schäufele, der für die Grundstücks- und Liegenschaftsverwaltung der Stadt verantwortlich ist.
Als die Vorlage vor einem Jahr in die Beratungsrunde ging, kam aus fast allen Bezirksgemeinden der Wunsch, die Punktzahl für die Ortsansässigen höher zu schrauben. Coronabedingt verschob sich die Beschlussfassung. Zeit, so Schäufele, »um mit einem Juristen in Klärung zu gehen«. Der sei zum Ergebnis gekommen, dass die 70- zu 70-Punkteverteilung »so scharf auf Messersschneide steht, dass sie angefochten werden könnte«. Das Dilemma: Würde ein unterlegener Bauplatzbewerber vor Gericht ziehen, müsste die Stadt das komplette Verkaufsverfahren stoppen – und das womöglich für lange Zeit. Deshalb habe man die ortsbezogenen Kriterien auf maximal 55 Punkte begrenzt, um, so Schäufele, »auf der sicheren Seite zu sein«.
Grundstücke in Erbpacht vergeben
Der Antrag von Grünen und Linker Liste, die städtischen Grundstücke auch in Erbpacht zu vergeben, sieht die Verwaltung als nicht sinnvoll an. Schon der Nachfrage wegen: Von 1991 bis 2006 wurden nur sechs Erbbaurechte vergeben, die alle nach 10 oder 15 Jahren rausgekauft wurden. Seither ist Funkstille, keine einzige Anfrage ging mehr an die Verwaltung. Das Erbbaurecht sei aktuell auch keine attraktive Alternative zum Grundstückskauf, weil die Kapitalmarktzinsen für eine Finanzierung deutlich unter den Erbpachtzinsen liegen, wird in der Vorlage ein weiteres Argument genannt.
STÄDTISCHE GRUNDSTÜCKE WERDEN DIGITAL VERMARKTET
»Baupilot« bietet Verwaltung und Interessenten viele Vorteile
Einfache Bedienung, weniger Verwaltungsaufwand: Die Stadt Reutlingen nutzt zur Vermarktung der städtischen Grundstücke und Immobilien das Onlineportal www.baupilot.com. Es bietet Kommunen eine professionelle Web-Anwendung und möchte Bauplatz-Interessenten den Grunderwerb so einfach und transparent wie möglich machen.
Die Plattform ermöglicht Interessenten eine komfortable und anonyme Bauplatzsuche, bietet ein komfortables Online-Verfahren für Bewerber und eine rechtssichere Kommunikation während der Vergabe. Außerdem stellt sie Pläne für Bewerber zum Download bereit, bildet Vergaberichtlinien vollständige in einem Fragebogen ab und wertet diesen samt Berechnung der im Verfahren erreichten Punkte aus.
Alle nötigen Informationen zu den in der Vermarktung befindlichen städtischen Grundstücken und Immobilien werden übersichtlich dargestellt, zu jedem Projekt ist der Ansprechpartner der Stadtverwaltung angegeben. Auch weitere Informationen, beispielsweise zur Reutlinger Eigenheimrichtlinie, können direkt abgerufen werden. Wenn einmal keine städtischen Bauplätze zur Vermarktung anstehen, können sich Interessenten auf eine Liste setzen lassen und werden bei neuen Vermarktungen automatisch benachrichtigt.
Die Stadt Reutlingen vermarktet neben den Wohnbauflächen auch die Gewerbeflächen über die Onlineplattform. Die Vorteile: Alle Informationen sind dauerhaft verfügbar. Zudem besteht die Möglichkeit, sich in eine generelle Interessentenliste eintragen zu lassen. (GEA)
Am vergangenen Mittwoch informierte die Verwaltung die Bezirksgemeinderäte nicht öffentlich in der Rommelsbacher Wittumhalle über die Änderungen, direkt im Anschluss waren die Eigenheimrichtlinien öffentlich Thema in einigen Ortschaftsrats-Sitzungen. Wie in Ohmenhausen, wo Achim Weiblen berichtete, die mit dem EU-Urteil begründete Rückstufung der Ortskriterien habe bei den Ratskollegen »große Verwunderung« ausgelöst. Viele seien der Meinung, die Stadt könne ein höheres Risiko eingehen, wenn jemand klagt.
Ehrenamt nicht genug berücksichtigt
Er sprach sich dafür aus, die Ortsbezogenheit stärker zu gewichten und sie in der Punktezahl nach oben zu rücken, was auf allgemeine Zustimmung stieß. »Wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass tatsächlich junge Ohmenhäuser Bürger keine Chance haben, hier zu bauen und deshalb weggezogen sind.« Bemängelt wurde auch, dass das Ehrenamt in der aktuellen Beschlussvorlage zu wenig berücksichtigt wird: Bei einem Patt soll jetzt das Los entscheiden. »Wenn wir es in der Hand haben, die Kriterien zu ändern, sollten wir es tun«, forderte Helmer Malthaner.
Anders in Reicheneck. Hier regt sich keinerlei Widerspruch gegen das neue Reglement. Hier finden es die Bezirksgemeinderäte in Ordnung, dass bei der Vergabe kommunaler Bauplätze soziale Kriterien künftig stärker gewichtet werden als Ortsbezüge. Mit Blick auf die im Norden des Dorfes gelegene Expansionsfläche »Stückle« – dortselbst möchte die Stadt Reutlingen Grundstücke von privat aufkaufen – versprechen sich Schultes Ulrich Altmann und die übrigen Gremiumsmitglieder, dass die neue Richtlinie dazu beiträgt, junge Familien zum Zuge kommen zu lassen. Sie nämlich dürften klare Profiteure der novellierten Vergabe-Richtlinie sein, die unter anderem darauf abzielt, einkommensschwächeren Bevölkerungsgruppen Grunderwerb zu ermöglichen.
Sickenhäuser gehen oft leer aus
Sickenhausens Bezirksbürgermeister Frank Zeeb steht der Vorlage zwiegespalten gegenüber. Einerseits möchte er der Stadt Rechtssicherheit geben, andererseits sieht er eine zu niedrige Gewichtung der ortsbezogenen Punkte. Benjamin Mauser ärgerte es noch immer, dass bei der Vergabe im zuletzt erschlossenen Wohngebiet kaum Sickenhäuser den Zuschlag bekamen. Und auch, wenn über den Baupilot in Sickenhausen lediglich ein Bauplatz für zwei Doppelhaushälften »Im Hau« zur Vermittlung steht, will er das Ortspunktesystem stärken, damit die umliegenden Ortschaften davon profitieren. So stimmte das Gremium geschlossen dafür, dass die Stadt die ortsbezogenen Kriterien stärker bewertet und die Punkte bis zur rechtlich zulässigen Grenze erhöht werden. (GEA)