REUTLINGEN. »Als ich meinen Sohn aus der Schule abholen wollte, war da ein Mann, der hat ihm den Nacken mit dem Finger rauf- und runtergestreichelt und ihm ins Ohr geflüstert.« Maria M. (Name von der Redaktion geändert) ist auch mehr als 15 Jahre später noch betroffen, wenn sie von diesem Erlebnis erzählt. Bei dem Mann handelte es sich um den nun verurteilten Sexualstraftäter aus Oferdingen (der GEA berichtete). Er war an der Schule als Nachhilfelehrer tätig. Von seinen Straftaten wusste M. damals noch nichts. Doch mulmig war ihr trotzdem zumute: »Damals hatte ich schon ein schlechtes Gefühl«, sagt die Mutter von zwei Söhnen.
Sie fragte ihren Sohn, was der Mann von ihm wollte. Die stolze Antwort des Juniors: »Ob ich in den Fußballverein gehen möchte.« Der Mann war damals Jugendtrainer beim TSV Oferdingen. Heute ist klar: Er hat Kinder missbraucht und Kinderpornos hergestellt. M. ist unglaublich froh, dass sie ihren beiden Jungs damals verboten hat, in den TSV einzutreten. Auch wenn sie gerne gekickt hätten.
»Es geht bei sexueller Gewalt vor allem um Machtausübung. Es hinterlässt ein Ohnmachtsgefühl bei den Betroffenen«, sagt Dorothee Himpele, Geschäftsführerin vom Verein »Wirbelwind« mit Sitz in der Kaiserstraße 4 in Reutlingen. Drei Fachkräfte unterstützen Kinder und Jugendliche, die von sexueller Gewalt betroffen sind, sowie auch Angehörige und Fachkräfte, die mit jungen Menschen arbeiten.
Wirbelwind berät auch anonym
Die Organisation, die zu Teilen vom Landkreis Reutlingen finanziert wird, gibt es seit etwa 30 Jahren. »Wir bieten sofortige Unterstützung und einen Raum zum Reden an«, sagt Himpele. Natürlich gelte die Schweigepflicht. Die Beratung wird auch online anonym oder per Telefon angeboten. »Das hilft vielen, sich zu öffnen«, sagt sie. Während der Sprechzeiten können sich Betroffene ohne Anmeldung direkt melden.
Im vergangenen Jahr hat sich Wirbelwind um 170 Fälle gekümmert. »Das Bewusstsein für das Thema sexuelle Gewalt ist in den letzten Jahren größer geworden«, sagt die Geschäftsführerin. »Wirbelwind« schult unter anderem Multiplikatoren in Kitas, Schulen und Vereinen.
»Wenn ein Verein ein Schutzkonzept hat, was leider noch selten der Fall ist, schreckt das Täter ab, da diese dann wissen, dass hier Leute geschult sind und handeln können«, sagt sie.
Der TSV Oferdingen hatte damals kein Schutzkonzept. Neue Trainer mussten kein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Das wurde erst geändert, als 2020 eine komplett neue Vorstandsriege ins Amt kam.
Da man sich nicht auf Schutzmechanismen in Vereinen und Institutionen verlassen kann, will »Wirbelwind« Kinder und Jugendliche sensibilisieren. In Workshops wird ihnen gezeigt, wie sie sexualisierte Übergriffe erkennen können und wie sie ein Gespür für die eigenen Grenzen und die Grenzen der anderen bekommen. Himpele nennt alarmierende Zahlen: »In jeder Schulklasse sind im Schnitt, laut einer Studie der World Health Organisation (WHO) ein bis zwei Schülerinnen oder Schüler betroffen. Das Dunkelfeld ist noch viel größer.« Sexuelle Gewalt könne auch verbal sein. Wenn etwa ein Lehrer seiner Schülerin sagt, dass sie ja schon Brüste bekommen habe.
Maria M. aus Oferdingen hat ihre Bedenken gegenüber dem Sexualstraftäter damals verschiedenen Menschen gegenüber deutlich geäußert. Das betont sie im Gespräch mit dem GEA. Doch sie hatte das Gefühl, auf taube Ohren zu stoßen. »Wir hätten mehr Unterstützung gebraucht. Wir hätten dann viel verhindern können«, sagt sie. Sie habe sich auch bei der Polizei gemeldet, sagt sie. Die Antwort eines Beamten sei gewesen: »Derzeit liegt nichts gegen ihn vor. Aber tun Sie alles, was in Ihrer Macht steht, dass er sich von den Kindern fernhält.«
M. setzte daraufhin alles daran, den mittlerweile verurteilten Sexualstraftäter aus der Grundschule »zu entfernen«. Sie berichtet, was sie alles versucht habe: Gespräch mit der Schulleitung, erneuter Anruf bei der Polizei. Diese sei, so M., dann ins Gespräch mit der damaligen Schulleitung gegangen. Kurz darauf habe der Täter Schulhofverbot erhalten. Die Polizei schreibt: »Im Rahmen der Ermittlungen ergaben sich keine Hinweise darauf, dass die Polizei diesbezüglich in den Jahren 2008/2009 bereits an der Schule war.« M. hat die Polizei wegen des Oferdinger Täters »nur« angerufen – wenn auch mehrfach. Anzeige hat sie nicht erstattet. »Das wollte ich nicht. Er wusste doch auch, wer ich bin«, sagt sie heute. Und: »Mein Kind wurde ja auch nicht geschädigt.«
Wann kann die Polizei einschreiten, wann können Ermittlungen beginnen? Die Antwort der Polizeipressestelle: »Die Polizei schreitet grundsätzlich ein, wenn zum Beispiel das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung oder die körperliche Unversehrtheit einer Person gefährdet ist oder gestört wurde. Die Polizei/die Staatsanwaltschaft ermittelt beim Vorliegen hinreichender tatsächlicher Anhaltspunkte für eine verfolgbare Straftat.«
Auswirkungen von Missbrauch
M. hat sich im ganzen Fall nicht genügend ernst genommen gefühlt. Auch wenn die Angelegenheit zumindest für ihre Kinder gut ausgegangen ist. Mit diesem Gefühl ist sie nicht alleine. »Ein Kind muss im Schnitt bis zu sieben Personen ansprechen, bis ihm oder ihr geglaubt wird«, sagt Dorothee Himpele vom Verein »Wirbelwind«. Vieles werde runtergespielt, das Thema sei noch sehr tabubelastet.
Der Oferdinger Täter hatte einen sehr engen Kontakt zu vielen Familien und Kindern im Dorf. »Er war wie ein Bandwurm, der sich einen neuen Wirt sucht«, sagt Maria M. über ihn. Laut Himpele eine gängige Strategie der Täter: »Sie kommen näher, ohne dass es auffällt, und wickeln die Menschen langsam um den Finger. Sie vernebeln das ganze Umfeld.« Sie gibt zu bedenken: »50 Prozent der Täter sind nahe Bekannte. 30 Prozent aus der Familie.« Viele sexuelle Übergriffe ziehen sich über Jahre hinweg. Sie können eine posttraumatische Belastungsstörung auslösen. Um dennoch ein gutes Leben führen zu können, helfen die eigene Resilienz und das familiäre Umfeld. »Es geht uns darum, die Kinder in ihrem Selbstwert zu stärken. Sie sollen ihre Stärken und Ressourcen wiederfinden«, sagt Dorothee Himpele.
Auch die Arbeit mit den Eltern sei wichtig, da diese oft die Schuldfrage quäle. Sie werfen sich häufig vor, ihre Kinder nicht besser geschützt zu haben. Sexueller Missbrauch könne einen großen Vertrauensverlust in die Welt und im Bezug auf andere Menschen mit sich bringen, sagt Himperle. Häufig würden die Betroffenen unter Schamgefühlen leiden und unter dem Gefühl, selbst schuld zu sein. »Wir zeigen ihnen, dass sie nicht alleine sind, und vielen anderen das Gleiche passiert ist«, sagt Himpele.
Mit verschiedenen Ansätzen versuchen die Mitarbeiterinnen, einen Zugang zu ihren Klientinnen und Klienten zu finden. Dorothee Himpele ist beispielsweise studierte Kunsttherapeutin. Im Spielerischen, beim Skizzieren und Malen kommen auch die schwerwiegenden Themen zutage. Bei der Körpertherapie wird gezielt an körperlichen Reaktionen angesetzt, die durch Trigger hervorgerufen werden. So sind die Betroffenen diesen in der akuten Situation oft nicht mehr ausgeliefert. Die Folgen von Missbrauch können sich in schlimmen Fällen über Jahre hinziehen.
Maria M. hat die ganze Geschichte dann nach vielen Jahren plötzlich wieder eingeholt. Als der Oferdinger Täter aufgeflogen war, wurde sie als Zeugin für das Ermittlungsverfahren geladen und machte telefonisch eine Aussage. Ihre Aussage ist nun eines der vielen Puzzleteilchen, die ein schauriges Gesamtbild über die Vorfälle in der Nordraumgemeinde zeichnen. (GEA)