Logo
Aktuell Gericht

Messerattacke vor Reutlinger Zelle: Wie der Angeklagte zum Neonazi wurde

Ein 18-Jähriger sitzt wegen einer Messerattacke vor der Reutlinger Zelle auf der Anklagebank des Landgerichts Tübingen. Binnen weniger Monate hatte er vor der Tat eine unglaubliche Wandlung vollzogen. Auf Fragen nach seiner rechtsextremen Gesinnung antwortet er jedoch kaum.

Im Tübinger Landgericht wurde  der Prozess gegen einen 18-Jährigen fortgesetzt, der wegen versuchten Mordes und Volksverhetzung
Im Tübinger Landgericht wurde der Prozess gegen einen 18-Jährigen fortgesetzt, der wegen versuchten Mordes und Volksverhetzung angeklagt ist. Foto: Norbert Leister
Im Tübinger Landgericht wurde der Prozess gegen einen 18-Jährigen fortgesetzt, der wegen versuchten Mordes und Volksverhetzung angeklagt ist.
Foto: Norbert Leister

REUTLINGEN/TÜBINGEN. Die Messerattacke vor der Reutlinger Zelle im Juni vergangenen Jahres endete beinahe tödlich, was auch die Gutachterin Dr. Adina Schweickhardt in ihrer Aussage nochmals hervorhob. »Ich habe noch nie gesehen, dass jemand so eine Verletzung überlebt hat«, sagte die Rechtsmedizinerin. Es sei das Glück des Opfers gewesen, dass er sich nach der Attacke auf den Bauch gelegt habe und schnell Hilfe gerufen wurde.

Ansonsten ging das Landgericht an diesem vierten Verhandlungstag vor allem der Frage nach, wie sich der 18-jährige Angeklagte innerhalb weniger Monate von einem Punk mit rosa gefärbtem Haar in einen glatzköpfigen Skinhead verwandeln konnte. Richter Denis Fondy verlas App-Nachrichten und Chatverläufe, die eine rechtsextreme Gesinnung immer wieder belegten. Er habe sich Waffen besorgt und sprach davon, man könne sie gegen Menschen mit schwarzer Hautfarbe einsetzen. Der junge Mann, der sich selbst in den Chats »Skinhead SS88« nannte, gab außerdem Nazi-Parolen von sich. Auch den Vater und die Geschwister bedrohte er, der Kontakt brach endgültig ab, der Vater schrieb ihm noch: »Es gibt keinen Menschen, wegen dem ich mehr Tränen vergossen habe.« Von den Richtern und der Staatsanwältin Rotraud Hölscher nach diesem Gedankengut befragt, blieb der Angeklagte bei seiner bisherigen Aussage, er könne sich nicht erinnern, wisse es nicht mehr. Er schaute auf den Tisch, spielte mit seinen Fingern, zupfte Haut weg, aber konkrete Gründe kann oder will er nicht benennen.

Dem Vermieter ist nichts aufgefallen

Die Mutter vermutete in ihrer Aussage, dass es mit dem Vermieter zu tun hatte, in dessen Gasthaus der Jugendliche untergekommen war, nachdem er mit Erreichen der Volljährigkeit seine Wohngruppe verlassen musste. Der Vermieter war als Zeuge geladen, brachte aber auch kein Licht ins Dunkel. Seine Hunde hießen keineswegs Eva und Adolf, wie in der vergangenen Sitzung ausgesagt wurde, sondern Bella und Wanja, erklärte er. Mit dem jungen Mann habe er auch nicht mehr Kontakt als mit anderen Gästen gehabt, obwohl er mehrere Wochen bei ihm untergebracht war. Ob ihm nichts aufgefallen sei an dem Jugendlichen?, fragte Richter Fondy, etwa eine Glatze und Springerstiefel? »Das weiß ich nicht mehr, ich schaue nicht so auf Äußerlichkeiten.«

Eine Mitarbeiterin des Jugendamtes entwarf das Bild eines jungen Menschen, der von klein auf vielfältige Probleme hatte: ADS, eine Impulskontrollstörung, später kamen eine Entwicklungsverzögerung und Drogenkonsum hinzu. Mit 13 zog er aus, war in mehreren Wohngruppen, konsumierte Ecstasy und Cannabis, wurde straffällig, schwänzte die Schule. Mit 18 musste er deshalb auch die WG verlassen – neuen Wohnraum zu finden, gelang nicht. Das Jugendamt buchte ihm eine vorübergehende Unterkunft nach der nächsten, von Neckartenzlingen bis auf die Alb. Doch wie und warum kam es zu einer solchen Extremisierung? Die Zeugin vermutete dahinter keine feste Überzeugung: »Der Umschwung kam viel zu schnell, als dass ich das hätte ernst nehmen können«, sagte sie aus.

Der Vorsitzende Richter Dirk Hornikel gab dem Angeklagten am Ende der Sitzung »fürsorglich gemeinte Ratschläge« mit auf den Weg. Das Thema der politischen Gesinnung spiele eine große Rolle in dem Verfahren, erklärte er ihm geduldig, er möge sich doch dazu äußern, damit das Gericht zu einem Bild komme. Der nächste Verhandlungstag ist am Donnerstag, 14. März, um 9 Uhr im Tübinger Landgericht. (GEA)

Im Gerichtssaal

Richter: Dirk Hornikel (Vorsitzender), Bianca Dahm, Denis Fondy, Schöffen: Susanne Schettler, Thomas Holbein, Oberstaatsanwältin: Rotraud Hölscher, Pflichtverteidigerin: Katrin Lingel. Rechtsanwältin der Nebenklage: Sandra Ebert.