REUTLINGEN. Es gleicht einem Wunder, dass das Opfer der Messerattacke vor der Reutlinger Zelle überhaupt vor dem Tübinger Landgericht aussagen konnte. Oder, wie es Oberstaatsanwältin Rotraud Hölscher in ihrem Plädoyer eindrücklich zusammenfasste: »Die Zelle hat ihren Ruf weg, umso erstaunlicher ist es, dass am 9. Juni 2023 ein Treffen von Schutzengeln hier stattgefunden hat.« Eine derartige Stichverletzung mitten ins Herz, wie der 18-jährige Angeklagte sie dem Geschädigten, einem 37 Jahre alten Amerikaner, beigebracht hat, überlebt man normalerweise nicht, wie die medizinische Gutachterin in ihrer Aussage erklärt hatte.
»Der Täter ist danach mit einem Hitlergruß davongezogen, er zeigte keine Aufregung, keine Spur der Reue«, so Hölscher. Damit ist für sie der Tatbestand des versuchten Mordes erfüllt. Die Frage nach der rechtsextremistischen Gesinnung machte dabei einen Großteil des Verfahrens aus. Nicht zuletzt, da Ausländerhass als Tatmotiv ein niederer Beweggrund wäre und damit eine Anklage wegen Mordversuchs und nicht wegen versuchten Totschlags oder gefährlicher Körperverletzung nach sich ziehen würde.
Täter mit desolater Geschichte
Genaue Aussagen zur Gesinnung, wie er dazu kam, wie diese sich äußerte – allzu oft konnte der junge Mann keine Angaben machen. »Die Erinnerungslücken traten immer dann auf, wenn es gerade passte«, so die Schlussfolgerung der Oberstaatsanwältin. Wer es war, der ihn »in diese widerliche braune Suppe gezogen hat«, wie Hölscher es nannte, ließ sich nicht genau klären. Der Täter sei ein »junger Mann mit desolater Geschichte«, so ihre Einschätzung. Schuldfähig sei er dennoch.
Wegen seiner unreifen Persönlichkeit und Entwicklungsverzögerungen plädierte Rotraud Hölscher allerdings für eine Verurteilung nach dem Jugendstrafrecht, was das Gericht ebenfalls so sah. Zunächst habe sie Bedenken gehabt, ob der junge Mann überhaupt resozialisierbar sei - angesichts etlicher Vorstrafen. Doch der psychiatrische Gutachter hat festgestellt, dass dem jungen Mann die Unterbringung im Gefängnis mit seinem festen Rahmen gut tue. Hölscher forderte darum sieben Jahre und sechs Monate Haft. Diese Zeit benötige er für eine Therapie, um nachzureifen, aber auch um die verpasste Schulzeit nachzuholen.
Ohne Zweifel als Neonazi erkennbar
Zu einer anderen Schlussfolgerung gelangte Rechtsanwältin Katrin Lingel, die ebenfalls betonte, dass dem Opfer Furchtbares zugestoßen sei. Allerdings ist sie überzeugt, dass der Angeklagte die Tat nicht begangen habe, weil der Geschädigte Ausländer war. Es kam zu der Tat, weil die beiden an diesem Tag in einen Streit gerieten. Er wusste außerdem nicht, wie schwer die Verletzung war, darum war es nach Ansicht der Anwältin eine gefährliche Körperverletzung, für die sie fünf Jahre Haft forderte.
Der Vorsitzende Richter Dirk Hornikel ging am Mittwoch in der rund 90 Minuten dauernden Urteilsbegründung nochmals ausführlich auf dieses »außerordentlich ungewöhnliche Verfahren« ein. Der Ausgangspunkt war der Angriff eines jungen Nazis, »als solcher ist der Angeklagte damals ohne Zweifel erkennbar gewesen«, auf einen US-Amerikaner und das auf dem Gelände der linken Zelle. »Wenn ein Drehbuchautor sich das ausdenken würde, würde man ihm Unglaubwürdigkeit vorwerfen«. Doch es war so, und das Gericht folgte beim Tathergang den Schilderungen der Zeugen, des Geschädigten und der Oberstaatsanwältin.
Von klein auf alle Grenzen gesprengt
Täter und Opfer gerieten in Streit. Es wurde schnell laut und irgendwann stach der Angeklagte zu - und ihm sei klar gewesen, dass dieser Angriff lebensgefährlich war. Doch das Motiv zur Tat lag nicht in der rechtsextremen Gesinnung, hier wich das Gericht von der Anklage ab, sondern im Werdegang und Charakter des jungen Mannes. Dieser sei völlig entwurzelt aufgewachsen, habe »von klein auf alle Grenzen gesprengt«. Jeder, von der Mutter über den Vater bis zur Jugendhilfe und den Betreuern in der WG, sei mit ihm hoffnungslos überfordert gewesen. Zum Tatzeitpunkt war er obdachlos, hatte sich vom Punk zum Skinhead gewandelt, lebte seine Nazifantasien, und dann kam es zu dem verhängnisvollen Zusammentreffen.
So lautete das Urteil am Ende auf sechs Jahre und sechs Monate Haft wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Auch den Tatbestand der Volksverhetzung sah das Gericht als bewiesen an - wenige Tage vor der Messerattacke hatte der junge Mann ein Lied der verbotenen Band Landser auf dem Marktplatz abgespielt und dazu den Hitlergruß gezeigt. Außerdem gab das Gericht dem Adhäsionsantrag, mit dem zivilrechtliche Anspürch geltend gemacht werden, der Nebenklägerin Sandra Ebert statt. Sie hatte Schadenersatz über 25.000 Euro sowie Schadenersatz für mögliche Folgeschäden und die Kosten der Nebenklage gefordert. An den jungen Mann richtete Hornikel nochmals eindringliche Worte: »Nutzen Sie die Zeit, bitte. Ich hoffe, dies ist der Wendepunkt in Ihrem Leben.« (GEA)
Im Gerichtssaal
Richter: Dirk Hornikel (Vorsitzender), Bianca Dahm, Denis Fondy, Schöffen: Susanne Schettler, Thomas Holbein. Oberstaatsanwältin: Rotraud Hölscher. Pflichtverteidigerin: Katrin Lingel. Rechtsanwältin der Nebenklage: Sandra Ebert. (awe)