Töchterschule im »Adler«
370 Seiten stark ist der druckfrische Band: ein Lesebuch für alle, die sich für historische Themen, Land und Leute interessieren. Seit einem Jahrzehnt geben der Reutlinger Geschichtsverein und das Stadtarchiv die Blätter (hochwertig gedruckte und gebundene Bücher, wohlgemerkt) gemeinsam heraus. Eine sinnvolle Bündelung der Kräfte, hebt Bürgermeister Robert Hahn hervor; schließlich müssen die Produktionskosten - zwischen 25 000 und 30 000 Euro pro Ausgabe - vorgeschossen werden.
In Kreisen der Wissenschaft wie unter interessierten Laien genießt die Publikation aufgrund ihrer anspruchsvollen Ausrichtung große Wertschätzung, freut sich Dr. Wilhelm Borth, Vorsitzender des Geschichtsvereins. Er ist einmal mehr selbst unter den Autoren und erzählt von der Entwicklung des Isolde-Kurz-Gymnasiums und seiner Schulhäuser, vom ersten Unterricht für »höhere Töchter« Anno Domini 1841 im Gasthof Adler (neben der heutigen Kreissparkasse) bis zur Einweihung des Neubaues in der Oststadt 2002. Borth plaudert dabei quasi aus dem Nähkästchen, hat er das IKG doch etliche Jahre geleitet.
Steine und Samen
»Impressionen« anbieten, die sich mit anderen zu einem aufschlussreichen »Gesamtbild« fügen, welche Kräfte durch die Geschichte und in die Zukunft hineinwirken: Das ist laut Wilhelm Borth das Erfolgsrezept der Blätter, deren Herausgabe von Dr. Heinz Alfred Gemeinhardt als »spiritus rector« (Bürgermeister Hahn) verdienstvoll betreut wird. Dabei ist dem Leiter des Stadtarchivs auch diesmal eine gute Mischung gelungen:
Werner Grüninger, von Haus aus Biologe, Umweltforscher und in Reutlingen bekannt wie ein bunter Hund durch seine Luft-Untersuchungen mit Hilfe von Flechten, schlägt mit seiner Schilderung der Gönninger Kalktuffvorkommen eine Brücke von der Erd- zur Wirtschaftsgeschichte. Denn die anfangs bäuerlichen Steinbrüche wuchsen zu einer bedeutenden Industrie: Seit Herbst 2003 erinnert ein Lehrpfad vom dörflichen Rathaus zur Wiesazquelle daran.
Klaus Kemmler, selbst Spross einer Gönninger Samenhändlerfamilie, erzählt vom Denkmal, das 1943 in der Kirche Peter und Paul den 200 Reisende gewidmet worden ist, die mit ihrem Saatgut in ferne Länder aufbrachen und nie zurückkehrten. In vergilbten Berichten, Dokumenten und Kirchenbüchern hat er eine Menge Neues über jene Menschen herausgefunden, deren Berufsstand Gönningen vom 19. Jahrhundert an zu einem gewissen Wohlstand und einer bemerkenswerten Weltoffenheit verhalf.
Rainer Loose ist Mössinger und als Geograf beim Landesarchiv. Er erinnert an ein fast vergessenes Kapitel der Wirtschaftsgeschichte Württembergs: an die Versuche, ärmeren Leuten mit Seidenraupenzucht zu einem Einkommen zu verhelfen. Auch in Reutlingen wurden Mitte des 19. Jahrhunderts tausende Maulbeerbäume gesetzt, Futter für die gefräßigen Raupen, die beim Verpuppen die begehrten Rohseide-Kokons spinnen.
Wer hat Ulrich verhauen?
Ins ausgehende Mittelalter blendet Horst Carl (Gießen/Tübingen) zurück: Der Schwäbische Bund und Reutlingens Rolle in dieser Allianz von Fürsten und Städten sind sein Thema. Bewegte Zeiten mit Kriegen um Herrschaft und Vergeltung, in denen das Jahr 1519 von schicksalhafter Bedeutung für die Reichsstadt war: Herzog Ulrich überfiel und besetzte Reutlingen, bis ihn der Bund vertriebÉ Wer Zuverlässiges über die Hintergründe wissen will, von den Wilhelm Hauffs blumiger Roman »Lichtenstein« nicht viel erzählt: In den neuen Geschichtsblättern wird er fündig.
Vierzig Seiten widmet der Band diesmal der Besprechung anderer Publikationen; auch diese »Links« schätzen die Stammleser der Reutlinger Geschichtsblätter. Diesmal finden sie 31 Hinweise auf weiter führende Literatur und wichtige neue Quellen - oder auch den dezenten Hinweis, dass die eine oder andere eine Veröffentlichung weniger hält, als sie verspricht. (GEA)
Reutlinger Geschichtsblätter, Neue Folge 42; 368 Seiten, 148 Abbildungen, Leinen; Herausgeber Stadtarchiv und Geschichtsverein, hergestellt bei Oertel + Spörer, 28 Euro; Reutlingen 2003.

Lobgesang auf den alten Lucas

Geschichtsblätter, Jahrgang 2003: Über die wiederum gelungene Themenmischung freuen sich (von links) Bürgermeister Robert Hahn, Franz Friedrich Just, Autor des Schwerpunkt-Beitrages zur Pomologie, Stadtarchivar Dr. Heinz Alfred Gemeinhardt und Dr. Wilhelm Borth, Vorsitzender des Reutlinger Geschichtsvereins, der die Bände gemeinsam mit der Stadt herausgibt.
GEA-FOTO: HD